„denn Liebe und Glückseligkeit sind der unverzehrbare Stoff, woraus unsere Herzen gebauet sind“ – Der Eudaimoniediskurs der Empfindsamkeit und was das mit Kitsch zu tun hat (Arbeitstitel)
Post-Doc-Projekt von Dr. Theresia Dingelmaier
Im zweiten Teil der Geschichte des Fräuleins von Sternheim von Sophie von La Roche, eine 1730 in Kaufbeuren geborene Schriftstellerin der Empfindsamkeit und Autorin des ersten publizierten Romans einer Frau in deutscher Sprache, findet sich in einem „Brief an Emilien“ der titelgebenden Heldin das im Arbeitstitel genannte Zitat. Interessanterweise ist dieser Satz über Liebe und Glückseligkeit mit einer Anmerkung des Herausgebers Christoph Martin Wieland – ebenfalls Schriftsteller und Autor u.a. des ersten Bildungsromans Agathon, – versehen. Er schreibt darin: „Der ziemlich ins Preziöse fallende und von der gewöhnlichen schönen Simplizität unsrer Sternheim so stark abstechende Stil dieses Dialogen [sic!] scheint zu beweisen, daß sie bei dieser Unterredung mit Frau von C. nicht recht à son aise war.“ Für Wieland scheint dies also ein Phänomen geschmacklicher Entgleisung zu sein, ein über das gewöhnliche, wohltemperierte Maß hinausfließender Gefühlsüberschwang, der nur mehr damit erklärt werden kann, dass Frau von La Roche nicht ganz bei Sinnen war. Das angestrebte Habilitationsprojekt nimmt dies zum Ausgangspunkt seiner im Folgenden näher ausgeführten Fragestellungen zu Empfindsamkeit, der von La Roche – und nicht nur von ihr – im 18. Jahrhundert beschriebenen „Glückseligkeit“ und jener von Wieland angemerkten Entgleisung, dem literarischen „Kitsch“: Wie wird Glückseligkeit in der Epoche Empfindsamkeit generell, und dann auch geschlechtsspezifisch verhandelt? Welche Rolle wird ihr und damit auch der Literatur der Empfindsamkeit – und der Literatur überhaupt – in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts zugewiesen? Schließlich auch: in welchem normativen Zusammenhang werden die Konzeptionen von Empfindsamkeit und Glückseligkeit in und durch die Literatur – zu denken ist hier auch an die mit der im späten 18. Jahrhundert zahlreicher werdenden Unterhaltungsliteratur aufkommende ‚Empfindelei‘-Kritik und Lesesucht-Debatten der Zeit – beleuchtet bzw. welche Grenzen und Gemeinsamkeiten lassen sich zwischen glückseliger bzw. glückselig machender Empfindsamkeit und dem umstrittenen Begriff des „Kitschs“ ziehen?
Die Glückseligkeitskonzeptionen und deren diskursive Verfasstheiten der Epoche Empfindsamkeit sollen in der geplanten Forschungsarbeit erkundet, hinterfragt und auf weiterreichende kulturgeschichtliche Entwicklungslinien hin untersucht werden. Die These ist, dass sich im Zusammendenken und Neulesen von Empfindsamkeit und Eudaimonie ein neues Bild der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und deren literaturhistorischer Verwicklungen ergibt und sich grundlegende neue Erkenntnisse über die Parameter der Epoche wie Zärtlichkeit, Innerlichkeit, Tugendhaftigkeit und Sozialität sowie zur Rolle der Empfindsamkeit und ihrer Literatur für die Gesellschaft und deren Entwicklung ergeben. Zu denken ist dabei beispielsweise an die Tatsache, dass erst in der Empfindsamkeit weibliche Autorschaft und eine unterhaltende Kinderliteratur entstehen konnte. Inwiefern stehen diese im Zusammenhang mit Glückseligkeitskonzeptionen der Zeit bzw. bauen darauf auf? Insbesondere soll aber die zu Beginn aufgestellte Frage nach der „Wertung“ empfindsamer Literatur, die doch häufig unter zeitgenössischer „Schwulst“- und „Empfindelei“-Kritik bzw. im „Kitsch“-Verdacht der Postmoderne wenn nicht in Vergessenheit, so doch aus dem Kanon zu geraten droht, neu in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt werden. Die Untersuchung der Rolle der Eudaimonie in der Empfindsamkeit kann meines Erachtens helfen, auch aus literaturtheoretischer Sicht das Verhältnis von Literatur der Empfindsamkeit und jenen Werken, in denen Gefühle nur mehr Ware auf den Büchertischen waren, und damit jenes von Kunst und „Kitsch“, neu zu bestimmen.