Press release 55/22 - 13.06.2022

Ein Instrument der Wertevermittlung

Juristische Fakultät würdigt Bayerische Verfassung

Die Juristische Fakultät der Universität Augsburg hat zum 75-jährigen Jubiläum der Bayerischen Verfassung im Frühjahr ein Symposium abgehalten. Eine Nachlese zur Tagung ist nun in der Fachzeitschrift „Bayerische Verwaltungsblätter“ erschienen.
 

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Die Bayerische Verfassung ist die zweitälteste Landesverfassung. Am 8. Dezember 1946 in Kraft getreten, feierte sie Ende 2021 ihren 75. Geburtstag. An der Universität Augsburg nahm die Juristische Fakultät dieses Jubiläum zum Anlass, die Bayerische Verfassung ausführlich zu würdigen. Zur Tagung „75 Jahre Bayerische Verfassung: Verfassungsjubiläum und Jubiläumsverfassung“ im Frühjahr dieses Jahres ist nun eine Nachlese in der Fachzeitschrift „Bayerische Verwaltungsblätter“ erschienen.

Die Verfassung des Freistaats, über die seinerzeit per Volksentscheid abgestimmt wurde, weist einige Charakteristika auf, die vielleicht nicht allen bekannt sind, das tägliche Leben der Menschen in Bayern jedoch durchaus beeinflussen. „Verfassungen sind Identität und Zusammenhalt stiftende Fluchtpunkte politischer Gemeinschaften. Sie reichen damit in ihrer Bedeutung weit über das Recht hinaus und verdienen eine Würdigung und kritische Betrachtung“, sagt Prof. Dr. Daniel Wolff, einer der Organisatoren der Tagung.

Eine lebendige Verfassung

Wie lebendig und aktuell die Bayerische Verfassung ist, hat die Corona-Zeit gezeigt, in der sich etliche Menschen an den Bayerischen Verfassungsgerichtshof wandten, um über die Rechtmäßigkeit verschiedener Maßnahmen entscheiden zu lassen. „Trotz der Überwölbung der Bayerischen Verfassung durch das Grundgesetz gibt es Spielraum für die Gestaltung der verfassungsrechtlichen Ordnung im Freistaat Bayern“, erklärt Dr. Hans-Joachim Heßler, Präsident des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs und des Oberlandesgerichts München.

Ausgeprägte plebiszitäre Elemente sind ein prägendes Merkmal der Verfassung in Bayern. Diese führen dazu, dass im Freistaat neben der im Grundgesetz vorgesehenen Parlamentsgesetzgebung gleichberechtigt die Volksgesetzgebung steht. In seiner Einführung hat Prof. Dr. Ferdinand Wollenschläger, ein weiterer Organisator der Tagung, auf erfolgreiche Volksentscheide zur Abschaffung des Senats und zur Stärkung des Nichtraucherschutzes verwiesen, ebenso auf Initiativen zur Abschaffung der Studienbeiträge und zur Artenvielfalt. („Rettet die Bienen“)

Wie alle Rechtstexte bedarf auch die Bayerische Verfassung der Interpretation, eine Aufgabe, die in Bayern dem Verfassungsgerichtshof zukommt. Etliche Verfahren sind dort derzeit anhängig, was, so Heßler, zeige, wie die Verfassung das Leben im Freistaat mitgestalte. Viele dieser Verfahren böten die Möglichkeit, den Verfassungstext weiterzuentwickeln und zu konkretisieren, z. B. die Verfahren zu einzelnen Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie, aber auch zum Bayerischen Klimaschutzgesetz, zum Bayerischen Polizeiaufgabengesetz, zur Einführung des islamischen Unterrichts an bayerischen Schulen und zum Lobbyregistergesetz.

Akzente setzen im Rahmen des Grundgesetzes

Von ihrer Struktur her entspricht die Bayerische Verfassung einer Vollverfassung für einen souveränen Staat. „Diese Idee lebt bis heute in der bayerischen Mentalität des Mia san mia weiter, aber auch in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs“, sagt Prof. Dr. Peter M. Huber, Richter des Bundesverfassungsgerichts und Lehrstuhlinhaber an der Ludwigs-Maximilians-Universität München. Ein besonders anschauliches Beispiel für die Eigenständigkeit und Verfassungsautonomie ist das nur in der Bayerischen Verfassung niedergelegte Recht auf Naturgenuss.

Das Grundgesetz gibt dem Landesverfassungsrecht allerdings einen engen Rahmen vor. Dennoch beeinflusst nicht nur das Bundesverfassungsgericht die Landesverfassungsgerichte, auch anders herum sind Einflüsse sichtbar. Es habe, sagt Huber, mindestens 71 Entscheidungen gegeben, bei denen die Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs einen deutlichen Impuls auf die Karlsruher Rechtsprechung gesetzt habe. Zuletzt war das bei der Entscheidung zum Berliner Mietendeckel der Fall, in der die Argumentation des Verfassungsgerichtshofs in die Mietenstoppentscheidung des Bundesverfassungsgerichts mehrfach übernommen worden war.

Grundrechte und Grundpflichten

Praktisch bedeutsam ist auch ein weiteres Merkmal der Bayerischen Verfassung: ihr Bekenntnis zum Sozialstaat. „Das Sozialstaatsprinzip ist in Artikel 3 verbürgt, es verpflichtet den Staat zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins und einer gerechten Sozialordnung“, erläutert Prof. Dr. Birgit Schmidt am Busch, ebenfalls vor der Ludwig-Maximilians-Universität München. „Es gibt etliche Stellen in der Verfassung, an denen das durch soziale Grundrechte konkretisiert wird“, zum Beispiel die Rechte auf Wohnen, Bildung und Fürsorge sowie die Rechte auf Versorgung mit wichtigen Gütern des Lebensbedarfs und auf soziale Teilhabe. Ergänzt werden diese Grundrechte von Grundpflichten der Bürgerinnen und Bürger, woran sich eine weitere Besonderheit der Bayerischen Verfassung zeigt. Beispiele betreffen Hilfspflichten im privaten Verhältnis oder die Gemeinwohlverpflichtung wirtschaftlicher Tätigkeiten.

Durch das Sozialstaatsprinzip sei die Bayerische Verfassung, so Schmidt am Busch, ein Instrument der Wertevermittlung. Eine höhere Sensibilität für diese sozialstaatlichen Bestimmungen könnte und sollte zu veränderten Entscheidungen, beispielsweise im Arbeitsschutz oder im Wohnsektor, führen.

Wirkkraft und Aktualität

Die Verfassung Bayerns zeigt also Wirkkraft, rechtliche und identifikatorische.  Organisiert wurde die Tagung zum Verfassungsjubiläum von den Professoren Josef Franz Lindner, Daniel Wolff und Ferdinand Wollenschläger.

Der ausführliche Bericht zur Tagung ist in der Zeitschrift Bayerische Verwaltungblätter - Zeitschrift für öffentliches Recht und öffentliche Verwaltung, in Ausgabe 10/2022 erschienen. Die im Rahmen der Veranstaltung gehaltenen Vorträge werden in Heft 17 der Bayerischen Verwaltungsblätter publiziert werden, das am 1. September 2022 erscheint.

Zum Tagungsbericht

 

Ansprechpartner

Prof. Dr. Ferdinand Wollenschläger
Prodekan der Juristischen Fakultät
Faculty of Law

Medienkontakt

Corina Härning
Deputy Media Officer
Communications and Media Relations

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