Press release 80 - 18.11.2020

Triage und COVID-19

Handeln bei dilemmatischer Entscheidung: Juristen und Ethiker der Universität Augsburg positionieren sich zur Allokation knapper Rettungsmittel und nehmen Gesetzgeber in die Pflicht

Augsburg/CH – Triagieren, also bei knappen Ressourcen entscheiden, wer im Fall vieler Hilfsbedürftiger zuerst versorgt wird, muss medizinisches Personal normalerweise in Katastrophenfällen oder Kriegen. Die Corona-Pandemie hat die Triage-Frage erneut aufgeworfen. An der Universität Augsburg haben Juristen und eine Moraltheologin Stellungnahmen vorgelegt wie eine solche Dilemmasituation in der aktuellen Pandemie behandelt werden kann. Im Gegensatz zum Deutschen Ethikrat fordern beide Disziplinen vom Gesetzgeber eine Regelung der Triage-Entscheidung. Erschienen sind die Stellungnahmen als Essay des Zentrums für Interdisziplinäre Gesundheitsforschung (ZIG) der Universität Augsburg und in der Zeitschrift für Medizinstrafrecht.

Die Covid-19-Pandemie könnte die Frage aufwerfen wie knappe Ressourcen im Gesundheitswesen zu verteilen sind und gar eine Triage nötig machen pixabay

 

Nach mehreren Monaten der Pandemie sind die Infektionszahlen auf einem neuen Höhepunkt. Die sogenannte zweite Welle ist da und könnte wie die erste die Frage aufwerfen, ob es genügend Beatmungsgeräte, Intensivbetten, Pflegepersonal, Medikamente oder andere Rettungs- bzw. Hilfsmittel gibt. Nach welchen Kriterien medizinisches Personal in Knappheitssituationen entscheidet wie Hilfsmittel auf Patienten und Patientinnen verteilt werden, ist auch eine ethische wie eine juristische Frage.

An der Universität Augsburg haben Rechtwissenschaftler und eine Moraltheologin Einschätzungen vorgelegt, die das Dilemma um die sogenannte Triage beleuchten und den Gesetzgeber in die Pflicht nehmen.

Kerstin Schlögl-Flierl, Professorin für Moraltheologie, und der Professor für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie Josef Franz Lindner widmen sich der ethischen und rechtlichen Dimension des Themas im zweiten Essay des Zentrums für Interdisziplinäre Gesundheitsforschung, ZIG. Der Aufsatz „Rechtmäßiges Handeln in der dilemmatischen Triage-Entscheidungssituation“ des Augsburger Professors für Straf- und Medizinrecht Michael Kubiciel erschien in der Zeitschrift für Medizinstrafrecht.

Erfolgsaussicht und Bedürftigkeit

„In der Moraltheologie wie im Recht gilt der Grundsatz ‚Ultra posse nemo tenetur‘: Man kann in manchen Situationen nicht mehr als das Menschenmögliche leisten“, erklärt Schlögl-Flierl. Dieses Menschenmögliche indes kann die Entscheider in dilemmatische, ja traumatisierende Situationen führen, sollte eine Triage nötig werden, denn grundsätzlich hat jeder Patient, jede Patientin das Recht auf Gleichbehandlung. „Jede Entscheidung über die Verteilung der Ressourcen – ebenso wie eine Nicht-Entscheidung – führt unweigerlich zum Verlust von Menschenleben“, sagt Kubiciel. Eine Triage verletzt vor allem den medizinethischen Standard der Gerechtigkeit. „Sie kann nur Ultima Ratio sein“, so die Moraltheologin Schlögl-Flierl.

Wie aber sollen Ärzte und Ärztinnen entscheiden im Triage-Fall, an welchen Kriterien sich orientieren? Alter, Herkunft, Systemrelevanz, gesellschaftlicher Status oder Behinderung sind als Kriterien unethisch. Im Triagefall wird darum neben der individuellen Erfolgsaussicht der Patientinnen und Patienten ihre medizinische Bedürftigkeit wichtig. „Es braucht aus ethischer Sicht eine auf den Patienten abgestellte Entscheidung in Kombination von Bedürftigkeit und Prognose“, schreiben Schlögl-Flierl und Lindner.

Scores, die medizinischem Personal helfen, mit diesen beiden Kriterien die Patienten und Patientinnen zu triagieren, haben die medizinischen Fachgesellschaften vorgelegt. Deren klinisch-ethische Empfehlungen bzw. ihre Entscheidungskriterien und Abläufe schätzen Juristen, auch Michael Kubiciel und seine Co-Autoren, grundsätzlich valide ein. Rechtssicherheit jedoch geben sie nicht.

Gesetzlich nicht geregelt

Eine konkrete Handlungsanleitung für medizinisches Personal wie knappe Rettungsmittel zu verteilen wären, fehlt jedoch in der deutschen Gesetzgebung. Weder das Infektionsschutz- noch das Katastrophenrecht halten entsprechende Regelungen bereit. Ärzte und Ärztinnen müssen diese Entscheidung mit Fachkollegen, ihren Krankenhäusern und ihrem Gewissen treffen. „Damit“, so Rechtswissenschaftler Kubiciel „tragen Ärztinnen und Ärzte die volle moralische Verantwortung und zudem erhebliche Rechtsrisiken.“

Interessanterweise existiert für Spenderorgane eine ähnliche Ausgangslage: mangelnde Ressourcen bei vielen Bedürftigen. Hier gibt es mit dem Transplantationsgesetz jedoch eine gesetzliche Regelung. Für Rettungsmittel gelten die allgemeinen straf- und medizinrechtlichen Regelungen.

Nach dem Strafrecht wäre ein Unterlassen ärztlicher Hilfe grundsätzlich strafbar. „Der allgemeine Grundsatz ‚impossibilium nulla est obligigatio‘ – keine Pflicht bei tatsächlicher Unmöglichkeit – gilt auch im Medizin- und Strafrecht. Kann ein beatmunsbedürftiger Patient mangels eines Beatmungsplatzes und mangels tatsächlicher Verlegungsoptionen nicht behandelt werden, entfällt die Strafbarkeit nach §§ 212 und 13 des Strafgesetzbuches“, erklärt Medizinrechtler Lindner.

Rechtssicherheit nötig

Schon im Frühsommer hatte sich der Deutsche Ethikrat mit einer Ad-hoc-Stellungnahme zum Thema Triage geäußert. Das Gremium riet dem Gesetzgeber von einer gesetzlichen Regelung ab und verwies die Ärzte auf ihre Gewissensentscheidung. Schlögl-Flierl und Lindner schreiben: „Der deutliche Rekurs des Ethikrates auf das Gewissen muss aus moralischer Sicht hinterfragt werden. Das Gewissen nimmt hier schon fast eine Platzhalterfunktion für die fehlende Entscheidung (oder auch Entscheidungskraft bzw. -willen) des Gesetzgebers ein.“

Normative Handlungsorientierung und Rechtssicherheit seien das Mindeste, was Mediziner in dieser Situation verlangen können, erklärt Michael Kubiciel. „Ihnen die ‚Primärverantwortung‘ für die Auflösung von Konfliktlagen zuzuschreiben und sie auf eine individuelle ‚Gewissensentscheidung‘ zu verweisen, hieße, sie in dieser moralischen Grenzsituation allein zu lassen und sie zudem mit erheblichen rechtlichen Risiken zu belasten.“

Wichtig ist Jurist Kubiciel noch dieser Aspekt: „Werden Patienten trotz einer bestehenden medizinischen Indikation von vornherein nicht intensivmedizinisch behandelt, weil andere Patienten mit einer gleichen oder besseren klinischen Erfolgsaussicht versorgt werden, handeln Ärzte und Ärztinnen rechtmäßig. Sie handeln nicht lediglich entschuldigt.“

Ethisches und rechtliches Postulat, schreiben Schlögl-Flierl und Lindner, sei es jedoch vor allem, dafür zu sorgen, dass eine Triage-Situation gar nicht erst eintrete.

Zum ZIG-Essay

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