Der vorliegende Text will einerseits ein historisches Projekt vorstellen, das in den kommenden Jahren im Rahmen einer Monographie ausgearbeitet werden soll, und er möchte andererseits eine Forschungsperspektive für die Philologisch-Historische Fakultät anregen, die die einschlägigen Stärken dieser Fakultät in einem interdisziplinären Projekt zusammenführen könnte.

 

Das Projekt fragt nach der Rolle, die die Schriftlichkeit im Prozess der Gesellschaftsbildung, der Selbstvergewisserung und der Frage der Zugehörigkeit gespielt hat (und weiter spielt).Das mediävistische Einzelprojekt zielt auf den Prozess, in dessen Verlauf im 14. und 15. Jahrhundert verschiedenartige europäische Gesellschaften mit einer eigenen Identität in der Spannung von Zusammenhalt und Abgrenzung entstanden. Anders als die verbreitete Annahme in der Forschung, die für die ganze Zeit des Mittelalters mehrheitlich von Gesellschaften spricht, geht das Projekt davon aus, dass diese Gesellschaften erst im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts als differenzierte, aufeinander bezogene, soziale Organisationen entstanden, und dass die Verbindlichkeit dieses Prozesses den verstärkten Gebrauch der Schrift im öffentlichen Leben hervorbrachte. Auf der Grundlage schriftlicher Texte wurde seit dem 14. bzw. 15. Jahrhundert (es sind europäische Entwicklungsunterschiede zu beachten) zunehmend über den Grad der Zugehörigkeit einzelner Gruppen zur jeweiligen Gesellschaft und über ihre Rolle in dieser Gesellschaft befunden. Erstmals finden sich nun auch systematisch angelegte Ausschlüsse (mit tödlichen Folgen).

 

Die Fragestellung würde sich indes auch für ein interdisziplinäres Forschungsprojekt eignen, das nach der Rolle (und der spezifischen Qualität) unterschiedlicher Texte in der Stiftung und Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnungen fragt – bis hin zu der Frage, ob der gegenwärtige erfahrbare Rückgang der Relevanz von Textwissen zugunsten bildlicher Informationen nicht einen Schritt in eine Zukunft jenseits national gestützter sozialer Ordnung bedeutet.

Lehrstuhlinhaber
Mittelalterliche Geschichte

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