Pressemitteilung 99/23 - 20.12.2023

Cobots als Türöffner in die Industrie für Menschen im Autismus-Spektrum?

Deutsch-italienische Studie untersucht Verhaltensmuster von Mitarbeitenden mit und ohne Autismus-Spektrum-Störung bei der industriellen Mensch-Roboter-Kollaboration.

Pooja Prajod, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Menschzentrierte KI an der Universität Augsburg, bespricht den Versuchsaufbau mit Matteo Lavit Nicora vom Istituto di Sistemi e Tecnologie Industriali Intelligenti per il Manifatturiero Avanza © Universität Augsburg
Forschende des KI-Produktionsnetzwerks an der Universität Augsburg untersuchten in einer ersten Studie die Verhaltensmuster neurotypischer Mitarbeitender sowie von Mitarbeitenden mit Autismus-Spektrum-Störung in der direkten Zusammenarbeit mit Cobots im industriellen Kontext. Beteiligt waren mehrere italienische Partner, das Istituto di Sistemi e Tecnologie Industriali Intelligenti per il Manifatturiero Avanzato (STIIMA-CNR), die Katholische Universität Mailand, die Universität von Bologna sowie das wissenschaftliche Institut Eugenio MEDEA. Die Ergebnisse zeigen die Vorteile eines auf die jeweiligen Bedürfnisse angepassten Arbeitsplatzes und sollen der Ausgangspunkt für eine stärkere Beachtung von physischer und mentaler Gesundheit in der Industrie 4.0. sein. Sie erschienen in der internationalen Fachzeitschrift „Frontiers in Psychology“.

In kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) arbeiten Menschen immer häufiger gemeinsam mit kollaborativen Robotern, kurz Cobots (eng. „Collaborative“ und „Robot“). Dies beeinflusst ihre körperliche und geistige Gesundheit erheblich: Ohne Kontakt zu menschlichen Kolleginnen und Kollegen bieten herkömmliche Roboter – meist in Form nur eines Roboterarms – kein soziales Feedback, verbunden mit einer stark monotonen Arbeitsausrichtung. Diese neue Arbeitssituation in der Industrie 4.0. steht im Fokus der Forschung des Lehrstuhls für Menschzentrierte Künstliche Intelligenz (KI) an der Universität Augsburg. Im Kontext des an der Universität angesiedelten KI-Produktionsnetzwerks untersucht eine aktuelle Studie Verhaltensmuster von neurotypischen Probandinnen und Probanden sowie von Probandinnen und Probanden mit Autismus-Spektrum-Störung bei der industriellen Mensch-Roboter-Kollaboration. Ziel war es herauszufinden, ob sich die Gruppen unterscheiden und wenn ja, welche Lehren daraus gezogen werden können. Die Ergebnisse der Studie, die vor allem durch den Einbezug Erwachsener mit Autismus-Spektrum-Störung Neuland betritt, zeigen die Vorteile eines auf die jeweiligen Bedürfnisse angepassten Arbeitsplatzes auf und sollen den Weg ebnen für die Stärkung von physischer und mentaler Gesundheit in der Industrie 4.0.

Die Studie

„Cobots arbeiten vorher festgelegte Routinen mit festgelegten Arbeitsaufträgen und -abläufen ab. Die Vorhersagbarkeit ihrer Handlung und die Verlässlichkeit der Ausführung stellen ein großes Inklusionspotential für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung dar. Dennoch wurde dies bis jetzt nicht erforscht“, schildert Pooja Prajod, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Menschzentrierte KI. Sie trug maßgeblich zur Studie bei und ist Mitverfasserin des kürzlich in der internationalen Fachzeitschrift „Frontiers in Psychology“ erschienenen Artikels „Behavioral Patterns in Robotic Collaborative Assembly: Comparing Neurotypical and Autism Spectrum Disorder Participants“. In der Studie arbeiteten acht neurotypische Teilnehmende und acht Teilnehmende mit Autismus-Spektrum-Störung an fünf aufeinanderfolgenden Tagen für jeweils dreieinhalb Stunden in einer industrieähnlichen, laborgestützten kooperative Roboterzelle und fügten gemeinsam mit dem Cobot Bauteile zusammen. Die Forschenden zeichneten dies per Video auf und beobachteten ergänzend die Teilnehmenden während der Studie. „Aus diesem Material gewannen wir umfangreiche Daten: Einerseits untersuchten wir die Videos quantitativ mit dem NOVA Annotationstool. Die Notizen von unseren Beobachtungen analysierten wir qualitativ“, umreißt Prajod die Methodik.

Ergebnisse und Schlussfolgerungen

Die Daten zeigen, dass die neurotypischen Teilnehmenden sich am leichtesten auf die Arbeit mit den Cobots einstellten, zum Beispiel ihren Arbeitsrhythmus auf den des Cobots anpassten und so im Endeffekt mehr Bauteile fertigten. Allerdings: „Die beste Zusammenarbeit erzielte ein Proband mit Autismus-Spektrum-Störung. Dies unterstreicht, wie wichtig es ist, bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen die individuellen Stärken jedes Einzelnen berücksichtigen, um Synergien zwischen Mensch und Maschine zu nutzen“, schildert Prajod. Mit Blick auf die Kosten, die durch die Einrichtung passgenauer Arbeitsumgebungen für Mitarbeitende entstünden, meint die Wissenschaftlerin: „Die Investition lohnt sich in jedem Fall – denn auch Mitarbeitende ohne Einschränkung profitierten von einer solchen Maßnahme, die auf lange Sicht zum Beispiel Ausfälle durch Krankheit vorbeugen könnte“. Die Studie soll nun mit einer größeren Zahl an Teilnehmenden fortgeführt werden, um die Ergebnisse der anfänglichen Studie zu bestätigen und zu erweitern.

Link zum Paper:

Frontiers | Behavioral patterns in robotic collaborative assembly: comparing neurotypical and Autism Spectrum Disorder participants (frontiersin.org)

Weitere Informationen

Das MindBot Projekt

MindBot zielt darauf ab, Methoden und Lösungen zur Förderung der psychischen Gesundheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Industrie 4.0 zu entwickeln, die mit sogenannten Cobots kooperative Aufgaben durchführen. Cobots sind Industrieroboter, die mit Menschen auf engem Raum – ohne Trennung durch spezielle Schutzeinrichtungen – in der Produktion und Fertigung zusammenarbeiten. MindBot strebt an, Arbeitsplätze so zu gestalten, dass die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter optimal unterstützt werden. Dadurch sollen negative Erfahrungen am Arbeitsplatz wie Stress oder Langeweile vermieden werden, die längerfristig zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes führen können. Insbesondere soll MindBot auch dazu beitragen, Personen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASD) durch verbesserte Anpassungsfähigkeiten der Cobots in die Arbeitswelt zu integrieren. MindBot wurde von der europäischen Union gefördert.

Das KI-Produktionsnetzwerk Augsburg

Das KI-Produktionsnetzwerk Augsburg ist ein Verbund der Universität Augsburg, des Fraunhofer-Instituts für Gießerei-, Composite- und Verarbeitungstechnik IGCV, des Zentrums für Leichtbauproduktionstechnologie (ZLP) des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Augsburg sowie der Technischen Hochschule Augsburg. Beteiligt sind zudem regionale Industriepartner. Ziel ist eine gemeinsame Erforschung KI-basierter Produktionstechnologien an der Schnittstelle zwischen Werkstoffen, Fertigungstechnologien, datenbasierter Modellierung und digitalen Geschäftsmodellen. Das KI-Produktionsnetzwerk Augsburg wird mit 92 Millionen Euro aus der Hightech Agenda der bayerischen Staatsregierung gefördert.

Ansprechpersonen

Lehrstuhlinhaberin
Lehrstuhl für Menschzentrierte Künstliche Intelligenz
Wiss. Mitarbeiterin
Lehrstuhl für Menschzentrierte Künstliche Intelligenz

Medienkontakt

Corina Härning
Stellvertretende Pressesprecherin
Stabsstelle Kommunikation & Marketing

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