Pressemitteilung 30/21 - 12.04.2021

Quantenboost für klassische Kühltechnik

Magnetische Kühlung ganz nahe zu absolut Null – neues Material verbessert etablierte Technik

Augsburg/PG/CH – Effektive Kühlung bis zu tiefsten Temperaturen am absoluten Nullpunkt ist sowohl für die Grundlagenforschung als auch für den Betrieb künftiger Quantencomputer erforderlich. Eine seit langem bekannte Kühltechnik basiert auf der adiabatischen Entmagnetisierung paramagnetischer Salze. Ein Forschungsteam der Universität Augsburg entwickelte dafür nun eine chemische Verbindung, in der Quanteneffekte magnetischer Ordnung sehr stark entgegenwirken. Die neue Verbindung zeigt exzellente Kühleigenschaften und praktische Vorteile gegenüber etablierten Kühlsubstanzen.

 

Untersuchungen nahe am absoluten Nullpunkt sind essentiel für die Grundlagenforschung, hier ist Prof. Dr. Philipp Gegenwart im Tieftemperaturlabor der Universität Augsburg © Universität Augsburg

Vor 100 Jahren wurden nicht nur die ersten elektrisch betriebenen Kühlschränke für Privathaushalte entwickelt. Tieftemperaturtechnik ermöglichte auch erstmals, Materialien bis hin zu sehr tiefen Temperaturen in der Nähe des absoluten Nullpunkts bei 0 Kelvin (K), also -273.15°C, zu untersuchen, was in der Folge zu spektakulären Entdeckungen wie der Supraleitung von Metallen führte. Dank technologischer Entwicklung werden heutzutage routinemäßig Untersuchungen im Bereich weniger Kelvin in jedem Tieftemperaturlabor durchgeführt.

Noch näher an den absoluten Nullpunkt zu gelangen, ist nicht nur für die Grundlagenforschung wichtig. Quantencomputer versprechen revolutionäre Anwendungen für aufwendigste Rechenoperationen und Simulationen, benötigen aber ultratiefe Temperaturen von etwa 0.02 K.

Hoher Preis für niedrige Temperaturen

Bislang lassen sich solch ultratiefe Temperaturen mit speziellen Kühlern erreichen, in denen eine Mischung der Heliumisotope 3He und 4He zirkuliert. Diese Anlagen sind sehr aufwendig und teuer in der Anschaffung (typischerweise im mittleren 6-stelligen Bereich), mit ständig wachsenden Betriebskosten. Insbesondere das Isotop 3He hat wegen seiner Seltenheit einen extrem hohen Preis, der beständig steigt. “Heliumkosten verursachen bereits jetzt einen hohen Anteil unseres Forschungsetats”, sagt Prof. Philipp Gegenwart, Leiter des Lehrstuhls Experimentalphysik VI an der Universität Augsburg, der mehrere Ultra-Tieftemperaturanlagen betreibt. “Der finanzielle Druck zwingt uns, helium-freie Technologien in den Blick zu nehmen.”

Herausforderungen in der magnetischen Kühlung

Eine kostengünstigere Alternative ist die sogenannte adiabatische Entmagnetisierung. Sie nutzt an Stelle von Helium spezielle magnetische Materialien, deren Elementarmagnete, genannt Spins, in einem angelegten Feld ausgerichtet werden können. Die Entropie, Maß für die Unordnung der Spins, ist dann bei einer Ausgangstemperatur von noch einigen Kelvin, welche sich mit Vorkühlstufen erreichen lässt, bereits sehr gering. „Temperatur und Entropie sind durch fundamentale Gesetze verknüpft”, so Dr. Yoshi Tokiwa, bis vor kurzem Gruppenleiter am Lehrstuhl in Augsburg. “Wird das Magnetfeld adiabatisch, also ohne Wärmeaustausch mit der Umgebung, reduziert, bleibt die Entropie des Materials konstant gering. Da die geringe Unordnung ohne Feld aber nur bei sehr niedriger Temperatur auftreten kann, erfolgt eine Abkühlung auf sehr tiefe Temperaturen”. Die erreichbare Minimaltemperatur wird durch einsetzende magnetische Ordnung begrenzt. Seit langem werden paramagnetische Salze, die ausreichend niedrige Ordnungstemperaturen aufweisen, als Kühlmaterialien eingesetzt. In diesen Materialien werden die Spins durch im Kristallgitter eingebaute Wassermoleküle auf Abstand gehalten. Genau dies führt jedoch zu einer niedrigen Spindichte und damit geringer Kühlleistung pro Volumen, chemischer Instabilität und daher sehr aufwendiger Handhabung.

Erkenntnisse der Quantenphysik

Die Augsburger Gruppe erforscht Materialien, in denen magnetische Ordnung durch Quanteneffekte behindert wird und stattdessen „Spinflüssigkeitsverhalten” auftritt. „Dies bedeutet aber nicht, dass diese Materialien Flüssigkeiten wären. Es sind kristalline Festkörper, deren Spins stark wechselwirken, sich jedoch nicht starr ausrichten können, analog zu den Teilchen in einer Flüssigkeit”, erklärt Dr. Alexander Tsirlin, Gruppenleiter am Lehrstuhl Experimentalphysik VI in Augsburg. Bislang war dieses Forschungsthema lediglich aus Sicht der Grundlagenforschung hochinteressant. Mit der in Communications Materials publizierten Entdeckung exzellenter magnetischer Kühleigenschaften eines solchen Materials wird nun eine Brücke zu Anwendungen geschlagen. Die Verbindung KBaYb(BO3)2 (Kalium-Barium-Ytterbium-Borat) wurde gezielt erforscht, weil ihre Spins konkurrierende Wechselwirkungen aufweisen, welche einen flüssigkeitsartigen Quantenzustand begünstigen können. Wie in der Abbildung gezeigt, wurde eine starke Kühlung bis hinab zu 0.022 K durch Magnetfeldreduktion von 5 auf 0 Tesla erzielt.

Technologisches Potenzial

Da die Verbindung chemisch stabil ist, einfach und kostengünstig hergestellt und gut verarbeitet werden kann, hat sie das Potenzial, etablierte paramagnetische Salze mit den oben beschriebenen Nachteilen zu ersetzen. Ihre Nutzung zur Erzielung ultratiefer Temperaturen im Labor wurde bereits gezeigt. Ein breiteres Anwendungspotential ergibt sich durch Kombination mehrerer unabhängig voneinander (ent)magnetisierbarer KBaYb(BO3)2 Bauteile in einem Kreisprozess, der kontinuierliches Kühlen ermöglichen könnte, wie es zum Beispiel zum Betrieb von Quantencomputern erforderlich ist. Die Arbeitsgruppe hat ein Gebrauchsmuster angemeldet und erhält zur Anbahnung von Industriekooperationen für die Umsetzung der Idee Unterstützung aus dem Projekt

Wissenstransfer Region Augsburg (WiR).

 

Eine Reduktion des Magnetfelds von 5 auf 0 Tesla bewirkt die Abkühlung einer KBaYb(BO3)2-Probe von 2 K auf 0.022 K, welche länger als eine Stunde stabil ist. Die Kristallstruktur weist Schichten mit Dreiecksanordnung magnetischer Yb3+-Ionen auf. Die adiabatische Änderung des Magnetfelds überführt die Spinmomente von einer ausgerichteten Anordnung in einen flüssigkeitsartigen Quantenzustand. © Universität Augsburg

Publikation:

Yoshi Tokiwa, Sebastian Bachus, K. Kavita, Anton Jesche, Alexander A. Tsirlin, and Philipp Gegenwart, Frustrated magnet for adiabatic demagnetization cooling to milli-Kelvin temperatures. Comm. Mater. 2, 42 (2021), DOI: 10.1038/s43246-021-00142-1.

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