King Lear – Ein Lehrstück der Empathie?

Wie der englische Dramatiker William Shakespeare die Sympathien seines Publikums in seiner dunkelsten Tragödie – King Lear – lenkt und warum auch Bertolt Brecht sich für dieses Stück interessiert hat: Damit befasst sich der Augsburger Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Mathias Mayer. Seine Erkenntnisse hat er in einem Buch zusammengetragen.
 

William Shakespeare hat „King Lear“ vermutlich um das Jahr 1606 verfasst – die früheste belegte Aufführung ist auf dieses Jahr datiert. Colourbox.de

Auftritt Lear. Stattlicher König, jähzorniger Vater und im Begriff, sein Reich unter seinen drei Töchtern aufzuteilen. Einen nichtssagenden Liebesschwur will der alte Mann noch hören. Doch gerade Cordelia, die jüngste und herzensgut, verweigert diesen törichten Wunsch. Soeben noch Lieblingstochter, wird sie vom Erbe ausgestoßen. Lears Freunde voller Entsetzen, die beiden anderen Töchter voller Schadenfreude. Und der Zuschauer, der diese Szene aus Shakespeares King Lear zu sehen bekommt? „Dieser verweigert jegliche Empathie gegenüber dem alten König“, sagt Literaturwissenschaftler Prof. Mathias Mayer. Und fügt ein „noch“ hinzu.

Passend zum 400. Jubiläum von Shakespeares erster Gesamtausgabe, der sogenannten First Folio, hat Mayer seine Forschung in dem Buch „King Lear – die Tragödie des Zuschauers“ zusammengetragen. Der Augsburger Germanist geht gegenüber anderen Ansätzen – Fragen des Charakters, der Macht, der Familie, des Mitleids – in eine neue Richtung. „Dass ausgerechnet die Hauptfigur gleich in der ersten Szene offenbar alles daransetzt, die Sympathie des Publikums zu verlieren, ist höchst verwunderlich“, sagt der Literaturwissenschaftler. „Noch verwunderlicher deshalb, weil Shakespeare gerade diesen Anfang gegenüber seiner literarischen Vorlage verstärkt, also noch unverständlicher gemacht hat.“

Zeit für eine neue Perspektive, die zunächst in einem Seminar an der Universität Augsburg im Rahmen des Studiengangs „Ethik der Textkulturen“ diskutiert wurde: Lears Weg führt, nachdem die heuchlerischen Töchter ihn verleugnen und

missachten, in den Wahnsinn, in dem er dann sprachmächtig gegen die Unbarmherzigkeit der Welt tobt und klagt. Ihm gehen nun die Augen auf, und er gewinnt durch seine Erniedrigung schrittweise die Empathie, das Verständnis und die Teilnahme des Publikums zurück.

Wiederholungen und Leitmotive

Mayer beschreibt dazu verschiedene Wege. Am wichtigsten seien die sogenannten Stellvertreterfiguren des Publikums. „Damit ist gemeint, dass Lears Handeln von außen beobachtet und auch kommentiert wird, Reaktionen des Zuschauers werden schon auf der Bühne selbst sichtbar.“ Hierher gehört etwa der zwischen Tragik und Komik zerrissene Hofnarr, der den wahnsinnigen König bis auf die von Sturm und Regen gepeitschte Heide begleitet. „Seine Weisheiten gehören zu den bittersten Sätzen, die der britische Dramatiker geschrieben hat.“

Eine andere Art der Zuschauerlenkung sei die raffinierte Technik, mit der in der Tragödie durch Wiederholungen und Leitmotive – etwa der Kleidung bzw. der Nacktheit, der Blindheit oder des Sehens – eine Verständigung mit dem Publikum über die Köpfe der Bühnenfiguren hinweg erzeugt wird. Mayer: „Diese Technik wird erst wieder in Richard Wagners Leitmotivtechnik so gekonnt praktiziert.“ Zusätzlich habe Shakespeare sein Stück, das in vorchristlicher Zeit spielt, mit diversen Bibelanspielungen unterlegt, durch die mit dem Elisabethanischen Publikum ein Dialog geführt wurde.

Der Literaturwissenschaftler untersucht auch, wie andere Autoren das Werk aufgreifen. Adalbert Stifter etwa hat in seinem Roman Der Nachsommer eine Aufführung beschrieben, die der Zuschauer als eine erschütternde Erfahrung der „wirklichsten Wirklichkeit“ wahrnimmt, obwohl sie nur gespielt ist. Selbst ein so kritischer Geist wie Bertolt Brecht, der dem Theater der harmlosen Einfühlung den Kampf angesagt hat („glotzt nicht so romantisch“), konnte sich der Macht dieses Stückes nicht entziehen. Mayer kommt zu dem Schluss, dass Brecht zu den besonders raffinierten Shakespearelesern zählt. „Er hat keine Scheu, ein Stück, in dem Empathie eine große Rolle spielt, im Licht seines dialektischen und epischen Theaters zu lesen, zu studieren, und wertzuschätzen“.

Wie ist es am Ende um die Empathie des Zuschauers bestellt? Lear, dem die verstoßene Tochter Cordelia (gegen die feindliche Macht ihrer Schwestern) zu Hilfe geeilt war, verliert den Kampf und bricht verzweifelt über der getöteten Lieblingstochter zusammen. Kurz davor ist es zu einer versöhnlichen Wiederbegegnung gekommen. „Mit dem Schluss zusammen gehört sie zu den bewegendsten Szenen der Empathie, die das Theater kennt“, meint Mathias Mayer.

Mehr erfahren:

Das Buch  „King Lear - Die Tragödie des Zuschauers. Ästhetik und Ethik der Empathie“ von Matthias Mayer (Lehrstuhlinhaber Neuere Deutsche Literaturwissenschaft) ist im Wallstein-Verlag erschienen und im Buchhandel erhältlich.

Wallstein Verlag

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