Thomas Hausmanninger
ursprünglich erschienen in: TV-diskurs 20, 40-45

 

Die Talkshows sind tot, es lebe die Gerichtsshow. Diese hat das „Quasselfernsehen“ und die „Brüll-Shows“ abgelöst, so titelt die Boulevardpresse. Das Publikum verlangt stattdessen „lösungsorientiertes Fernsehen“ mit einem „Wertekoordinatensystem“, diagnostiziert G. Marx von filmpool. Die Quoten scheinen das gewandelte Bedürfnis zu bestätigen. Medienwissenschaftlich gesehen, ist das ein interessanter Trend. Nachfolgend sollen die Shows daher genauer zu betrachtet werden. Ich konzentriere mich dabei auf die drei Gerichtsshows des Privatfernsehens - „Richterin Barbara Salesch“ (RBS), „Richter Alexander Hold“ (RAH), „Jugendgericht“ (JG).

 

Publikumsbedürfnisse und Angebotstrends

Um das Format zu verstehen, ist es hilfreich, zunächst zu fragen, was es ablöst und vom Abgelösten behält. Der Gerichtsshow gehen jene Formate voraus, die seit A. Kepplers (1994) Studie unter dem Begriff „performatives Realitätsfernsehen“ zusammengefasst werden können. Der Begriff der Performanz ist aus der Sprachwissenschaft entlehnt und meint bedeutungsstiftendes Verhalten. In der Konzentration darauf lässt sich die Gemeinsamkeit von Beziehungsshows, Bekenntnisshows, der daytime talks sowie schließlich des Performanz-overkill „Big Brother“ erfassen: Stets geht es darin um die Ausstellung von Alltagspersonen und ihrem Verhalten, ihrer unwillkürlichen Selbstdarstellung und lebensästhetischen Inszenierung.
Themen interessieren, insofern sie daran gebunden sind und werden über die Performanz abgearbeitet - nicht vorrangig das Argument und der Diskurs entscheiden für das Publikum über die Akzeptabilität bestimmter inhaltlicher Positionen, sondern deren performative und lebensästhetische Verkörperung. Gerade dadurch aber bilden die Sendungen ein Orientierungsangebot in unterhaltsamem Gewand, das für die je eigene Identitätsarbeit vom Publikum genutzt werden kann: In der „Inszenierungs-“ und „Erlebnisgesellschaft“ (Willems, Jurga 1998, Schulze 1993) der 1990er Jahre ist eine streng moralische (endgültig) durch eine lebensästhetische Konfiguration pluraler Formen des guten und gelingenden Lebens abgelöst. Während die moralische Konfiguration - klassisch verkörpert in der deutschen Gesellschaft der 1950er Jahre - mit deontischen Ge- und Verboten arbeitet oder überzeitliche „Werte“ voraussetzt, ist die lebensästhetische Konfiguration „weicher“, kontingenter, vermittelt sich über Haltungen und Verhaltensweisen, die nicht nur auf das gute, sondern (auch) auf das schöne Leben zielen. Die Erste steht, ethisch betrachtet, näher am Paradigma der Pflichtethik, die Zweite näher an dem der Haltungs- und Tugendethik (die als Neoaristotelismus nicht von ungefähr ab den 1980er Jahren auch eine Renaissance in der Philosophie verzeichnet). Streng moralische Kommunikation ist diskursiv-argumentativ verfasst, lebensästhetische Kommunikation hingegen eher expressiv, realisiert ihre normative Komponente im Schema „gefällt/gefällt nicht“ und durch Achtung/Missachtung. Vor diesem Hintergrund stellen die Talkshows gewissermaßen ein durchaus zeitgemäßes Angebot für Orientierungsbedürfnisse dar - oder taten dies jedenfalls bis vor kurzem. Diese Bedürfnisse als Nutzungsmotivation für solche Formate sind medienwissenschaftlich gut belegt (z.B. Paus-Haase u.a. 1999). Zusammen mit der Tatsache, dass solche nonfiction kostengünstiger und leichter herzustellen ist, als fiction, ließ sich deshalb geradezu ein langfristiger Trend der Abnahme fiktionaler zugunsten nichtfiktionaler Unterhaltung diagnostizieren (Hickethier 1999, 211). Rückläufig gegenüber dem faktionalen performativen Realitätsfernsehen schienen daher die fiktionalen Angebote, wie etwa die soap operas. Auch diesen aber brachte das Publikum neben dem Unterhaltungs- ein Orientierungsbedürfnis als Nutzungsmotivation entgegen. Hierin besteht meines Erachtens die Brücke, die den Trend auf der Publikumsseite von den Soaps über die Talks zu den Gerichtsshows führt: Das „Lösungsfernsehen“ bietet Orientierung, hierin löst es also nichts ab.
Der Wandel bezieht sich daher auf die werkseitige Form dieser Orientierung, die Gestalt, in der sie auftritt und das ethische Paradigma, dem sie nahe steht - also das „Wertekoordinatensystem“. Dieses ist nun klar konfiguriert - es ist in Recht und Gesetz verfasst und sanktionsbewehrt. Mit den darin verhandelten Fragen nach Verantwortlichkeit, Schuld und Gerechtigkeit treten gleichwohl nicht nur das verfahrensorientierte Recht und sein Diskurs, sondern auch die moralischen Fragen nach der objektiven moralischen Pflicht gegenüber anderen in den Vordergrund: Ungeachtet der auch in diesen Shows bejahten subjektiven Freiheit zur individuellen Konstitution gelingend-schönen Lebens und seiner lebensästhetischen Umsetzung zielt die Gerichtsshow auf die für alle verbindlichen - und damit objektiven - Regeln, deren Einhaltung erst diese individuelle Konstitution ermöglicht (vgl. auch Grimm 2001, 57). Es geht, mit anderen Worten, um die normativen Bedingungen, die Menschen einander bereitstellen müssen, damit jede und jeder sich in Freiheit realisieren kann. Diese Bedingungen gewährleistet jedoch nicht nur das Gesetz, sondern ebenso ein Korpus allgemein geteilter moralischer Normen, die soziale Verpflichtungen festschreiben. I. Kant führt diese als „Pflichten zur fremden Glückseligkeit“ in der Individualethik auf (Kant 1978, 524f) - und verdeutlicht so ihren moralischen (nicht nur rechtlichen) Charakter. Zusammen mit diesen erst stiften Recht und Gesetz soziale Ordnung.
In der Gerichtsshow machen vor allem stets die erklärenden Schlussworte der Richter (die „Urteilsbegründungen“) diese moralische Dimension über die rechtliche hinaus deutlich. In ihnen geht es um die Notwendigkeit der (verletzten) Norm für das subjektive Wohl der geschädigten Person - oder besser: für die Möglichkeit, ein solches sich zu erfinden - und um den freien, schuldhaften Verstoß gegen diese. Verdeutlicht wird, als notwendiges Korrelat zur Zwangsbefugnis des Rechts, die Pflicht zur Wahrung und Förderung fremden guten und gelingenden Lebens. Wie diese Verpflichtung vorrangig ist gegenüber den lebensästhetischen Idealen des individuellen schönen Lebens, weil sie diese erst möglich werden lässt, hat der objektive argumentativ-moralische Diskurs in den Shows Vorrang gegenüber den subjektiven Expressionen und Performanzen. Normative Richtigkeit steht vor expressiver Authentizität (Wahrhaftigkeit). Die Konjunktur der Shows indiziert so möglicherweise eine neue Sehnsucht nach Normen. Mit der starken Gewichtung objektiver sozialer Ordnung, die sich in klaren, argumentativ diskursivierten Urteilen ausspricht, lässt sich das Format auch als Ordnungsfernsehen apostrophieren. Mit ihm kommt die Pflichtethik zurück.
Allerdings mit starken Modifikationen zumindest gegenüber ihrer Gestalt in den 1950er Jahren: Dort sollten bestimmte Gestalten des individuellen guten und gelingenden Lebens allgemein verbindlich gemacht werden - wenn man so will, sollte die erste individualethische kantische Pflicht, nämlich zur „eigenen Vollkommenheit“ (Kant 1978, 522f), in detaillierter Objektivität (und so ganz unkantisch) ausgezogen werden. Dies aber vermeidet die Gerichtsshow (zumindest auf der verbalen Ebene der Urteile): Was jemand unter seinem gelingend-schönen Leben verstehen will, bleibt ihm oder ihr überlassen; nur wo die Möglichkeiten Dritter zu ihren eigenen Entwürfen berührt sind, greift die deontische Ordung. (Ästhetisch allerdings vermischt sie oft beides; dazu mehr unten.)

 

Die ästhetische Gestalt der Ordnung

Die Gerichtsshows bilden eine Mixtur, in der fiction und faction ineinander verschlungen sind. Die öffentlich-rechtlichen Vorläufer „Verkehrsgericht“ und „Ehen vor Gericht“ boten bereits mit Schauspielern nachgestellte Fälle, bei denen die Personalien geändert waren - und so eine Mischung. „Streit um Drei“ (ZDF) wiederholt dieses Muster. Dabei richtet sich die Aspiration auf den faktionalen Charakter: „Nachgestellt“ soll heißen, „aus dem richtigen Leben“. Als SAT 1 mit RBS begann, sollte nach amerikanischem Vorbild die Realität direkt ins Fernsehen geholt werden. „Echte Fälle“ und „echte Urteile“ sollten das öffentlich-rechtliche Vorbild überbieten. Die Umstellung auf Fiktion erfolgte 2000 aus Not - Schiedsgerichtsentscheidungen waren nicht spektakulär genug, um das Publikum zu binden. Doch wird die Realitätsnähe als Parallele zur Wirklichkeit gesucht und betont: „Wir holen [...] unsere Ideen aus dem richtigen Leben und lehnen uns auch stark an das an, was tatsächlich stattfindet.“ (Hold 2002). Da Richter, Staatsanwälte und Verteidiger im Zivilberuf Juristen - oft in denselben Berufen - sind, ist dieses „richtige Leben“ als reale juristische Autorität und Kompetenz in der Sendung leibhaft verkörpert. Sie sind, semiotisch gesprochen, nicht nur Zeichen, sondern das Bezeichnete in einer einfachen Präsenz.
Diesem faktionalen Gepräge arbeitet eine Reihe von inszenatorischen und ästhetischen Elementen zu. Der Stil der Lichtführung ist high key, enthüllt also und bringt Übersicht. Bei den Einstellungen dominieren Halbtotale, amerikanische Einstellung, nah und close up (wie bei einem Interview). Auf Obersicht und Untersicht wird fast völlig verzichtet (lediglich der höher sitzende Richter hat mitunter leichte Untersicht), ebenso weitgehend auf Kamerafahrten. Die Montage bevorzugt Schuss und Gegenschuss mit synchronem Ton. Der gesamte Stil ist eher statisch und abbildrealistisch, d.h. er erweckt bewusst den Eindruck des „abgefilmten“ Geschehens und so der dokumentarischen Objektivität. Dem entspricht der Einsatz von Musik: Auch auf diese ist weitgehend verzichtet; spannungserzeugende musikalische Signale entsprechen denjenigen von diversen Nachrichtensendungen. Lediglich bei der Verlesung der Anklageschrift und den Plädoyers gibt es musikalische Untermalung. Diese erinnert an die Präsentation von zu gewinnenden und beworbenen Gegenständen in Quizsshows wie „Der Preis ist heiss“ und verleiht so den Texten metonymisch den Charakter der Werbung, der Möglichkeit bzw. möglichen Richtigkeit, bevor dann der Richter ohne Musik objektiv urteilt und feststellt, was unumstößliche Wahrheit und normative Richtigkeit ist. Dieser Stil steht in einer deutlichen Differenz zu dem der Talkshow: Dort ist etwa die Kamera ständig in Bewegung, erzeugt Dynamik, wählt ungewöhnliche Perspektiven etc. Man kann diesen Unterschied so akzentuieren, dass der Talk (jedenfalls auch) Party ist, zur „Spaßgesellschaft“ gehört, während die Gerichtsshow den „Ernst des Lebens“ verkörpert. Mehr noch aber spiegelt sich darin nochmals werkseitig die bereits skizzierte Differenz: Talks sind (vorrangig) expressiv und performanzorientiert, während Gerichtsshows (vorrangig) argumentativ-diskursiv und auf Präsentation normativer Richtigkeit hin orientiert sind. Die Ordnung hat eine ästhetische Gestalt; der Ordnungsdiskurs repräsentiert sich auch in der audiovisuellen Struktur.
Die Faktionalität wird gleichwohl gebrochen durch die Fiktionalität der Fälle und - dies ist noch bedeutsamer - eine Reihe narrativ-dramaturgischer und inszenatorisch-ästhetischer Elemente aus rein fiktionalen Genres. Sehr deutlich ist das zunächst bei den Titelsequenzen, vor allem bei RBS und RAH, die ebenso für eine Krimiserie gemacht sein könnten. Lichtdramaturgie und Montage sind vor allem bei RAH dem Spannungskino (Action, Horror) entliehen. Der narrativ-dramaturgische Aufbau der einzelnen Sendungen entspricht weitgehend einer Mischung aus Justizthriller und Kriminalstück: Die Exposition stellt die Frage nach Motiv, Schuld oder Unschuld des Angeklagten, die Durchführung schafft die Indizien herbei, mitunter bringen Überraschungszeugen oder der ungewollte Selbstverrat des Angeklagten die Wahrheit ans Licht und am Ende siegt die Gerechtigkeit. In Grenzen wird dabei auch manchmal mit dem Gegensatz von Verteidiger und Staatsanwalt gespielt. Dieses Grundmuster kann mit anderen Genres gepaart werden, wobei diese auch das größere Gewicht erhalten können. Gut kombinierbar damit ist etwa das Sozialdrama - hier erweist sich der unterprivilegierte Angeklagte, oft auch der sozial Schwache oder gar der bereits straffällig gewordene „Kleinkriminelle“, als unschuldig, während die Tat dann dem reichen „Oberschichtsangehörigen“ nachgewiesen wird. Auch die Komödie oder sogar die Burleske aber kann in das Grundmuster eingesetzt werden. In diesem Fall können Verwechslungen oder skurrile Eigenschaften von Personen („Originale“, „Sonderlinge“ und fall guys) für Heiterkeit sorgen.
So bietet etwa die Teilfolge „Folter im SM-Studio“ (RAH 4.1.2002) einen Erotikkrimi, bei dem schon zu Beginn die Frage nach einer geheimnisvollen dritten Person gestellt wird und sich als Motiv dieser allmählich ökonomische Interessen herauskristallisieren. „Kopfschuss“ (RAH 13.11.2001) stellt einen klassischen Justizkrimi dar, bei dem sich durch eine verräterische Zeugenaussage ein Jagdunfall als geplanter Mord entpuppt. Die Ohrfeige für einen Auszubildenden in „Hier kocht der Chef“ (RBS 8.2.2002) ist Ingredienz eines Sozialdramas, das ungerechte Lehrverhältnisse anprangert. Die Geschichte um Satanisten, die einen Aspiranten lebendig begraben haben (JG 7.2.2002), nutzt Elemente des Horrorfilms und lässt einen Priester im langen Rock etwas von „Kindern des Teufels“ murmeln. Der Streit zwischen Nachbarn (RBS 4.2.2002), bei dem ein zugegipster Schuh das corpus delicti bildet und sich am Ende herausstellt, dass die Tat vom Sohn des Klägers begangen wurde, um die verhassten italienischen Nachbarn anzuschwärzen, ist eine Burleske.
Der Widerspruch zwischen faktionalem und fiktionalem Gepräge löst sich gleichwohl auf, wenn man den Vorrang der Orientierungsstiftung und des normativen Diskurses betrachtet: Die Anleihen bei fiktionalen Genres unterstützen die Strukturierung und bieten zusätzliche Orientierungsmuster für das Publikum. Sie erlauben den Rekurs auf verbreitete Genrekompetenz und damit die (vor)strukturierte Erfassung der Geschichte. Da das Publikum wohl zu größeren Teilen eher mit Spielfilmen als mit dem Gerichtssaal vertraut ist, gibt der Rückgriff auf Genremuster den normativen Aussagen der Gerichtsshows den intuitiven Anschein von Evidenz und Vertrautheit: Die Orientierung in der Geschichte wird erleichtert; die Orientierung durch die Geschichte wirkt selbstverständlich.

 

Typen und Charaktere: Messages für sozial-moralische Orientierung

Auf der Linie der Ordnungsstiftung liegt auch das Bemühen um die Typisierung der dargestellten Akteure. Spielfilme arbeiten auf diese Weise. Die - teilweise noch mit Rückgriff auf das Theater - dabei konstituierten Charaktere verkörpern filmimmanent (mindestens) Themen, Normen und einen bestimmten Status der Narration (vgl. Vogler 1997). Typisierung kann dabei auch soziale Konstellationen und moralische Bedeutungen verkörpern und darin wiederum auf Repräsentation realweltlicher Verhältnisse zielen.
Für den gegebenen Kontext interessiert dabei vor allem die Typenbildung bei den Klägern, Angeklagten und Zeugen. Zwar sind die Versuche deutlich, auch dem juristischen Personal entsprechende Konturen zu verleihen. So gemahnen die Charakterisierungen bei RBS an soziale Typisierungen des Justizkrimis: U. Tasic ist „die Frau, die den Männern das fürchten lehren kann“, M. Loskamp „der Wolf im Schafspelz“, und niemand „zitiert so wie er“, U. Krechel, der „als alter Hase [...] mit Paragraphen nur so um sich [wirft] und dabei [...] so manchen Staatsanwalt alt aussehen“ lässt (RBS 2002). Doch werden diese Charakteristika nur begrenzt ausgespielt, während die eigentlich bedeutsamen, ordnungsstiftenden Typisierungen bei den genannten Personengruppen stattfinden. Die dort auch ästhetisch konstituierten Charaktere versinnbildlichen direkt sozial-moralische Bedeutungen, meist in Gestalt eines Widerspruchs zu der von der Geschichte empfohlenen Pflichtorientierung, die dann von der Richterin oder dem Richter abschließend wieder in Geltung gesetzt bzw. in dieser argumentativ bestätigt wird.
Deutlich diesem Zweck dienen etwa die Typisierungen zweier Erwachsener, die Liebesbeziehungen mit erheblich Jüngeren bzw. Minderjährigen unterhalten: Die Kunsterzieherin, die mit einem Schüler liiert ist, wird als etwa 40-Jährige im Jugendlichkeitslook vorgeführt (JG 4.2.2002). Ihr Motiv, das aus ihrer Unfähigkeit entspringt, den eigenen Alterungsprozess zu integrieren, wird zwar später auf der Textebene auch vom Ehemann erläutert. Es steht jedoch bereits zuvor ästhetisch vor Augen. Da sie als verheiratet eingeführt wird, ist das Verhältnis zudem zugleich als Ehebruch moralisch diskreditiert (und dieser rekursiv durch die „Verführung Minderjähriger“ illegitimisiert). Der Musiklehrer wiederum, der nun zwar mit einer 18-Jährigen schläft, wird als Don-Juan eingeführt (RAH 7.2.2002). Die wild-ungebärdige Haartracht kennzeichnet ihn als Musiker, deren fettiger, ungewaschener Zustand jedoch als asoziale Figur. Die Kleidung mit dem aufgeknöpften Hemd erinnert zudem eher an einen Zuhälter und unterstreicht seine moralische Negativität. Auf der Ebene der Geschichte wird die Verurteilung des Verhältnisses auf die Spitze getrieben, als sich herausstellt, dass die junge Frau zugleich (unwissentlich) seine Tochter ist. In beiden Fällen werden zudem die kunstnahen Berufe genutzt, um Allusionen zu der zweifelhaften moralischen Verfasstheit der Bohéme herzustellen - die Spannung, in der die recht bürgerlichen Lehrberufe beider dazu stehen, diskreditieren sie dabei zusätzlich als „Möchtegern-Bohéme“.
Solche Typisierungen können zudem mit sozialkritischen Mustern verbunden werden, die dem Kinopublikum seit den Kindertagen des Films vertraut sind. Ausgespielt wird darin der „Gegensatz von Schloss und Hütte“ (Lange 1920, 46), wobei der moralische Skandal noch vorrangig im ungerechten Reichtum auf Kosten ausgebeuteter Armer besteht. Zwar erhält sich dieses Muster im Sozialdrama bis in die Gegenwart. Doch bilden die inzwischen durch den „Fahrstuhleffekt“ (Beck 1986, 122) gemilderten sozialen Lagen der gesellschaftlichen Großgruppen heute nicht mehr den vorrangigen Fokus für Sozialkritik. Eher geht es daher in den sozialen Dramen des Kinos um Missbrauch von Marktmacht für politische Belange - etwa der eigenen Interessensicherung -, um Korruption oder um Diskriminierung der weniger Begüterten, ungerechte Ausbildungsverhältnisse etc.
Die Gerichtsshow allerdings holt durchaus auch alte Bilder zurück: Da gibt es etwa den adeligen Bürgermeisterkandidaten, der sich Vorrechte im Straßenverkehr aus seiner Stellung ableitet, eine Politesse beleidigt und gar noch seinen Gärtner zu nötigen versucht, an seiner Stelle die Schuld auf sich zu nehmen (RAH 6.2.2002). Er erinnert sehr deutlich an jene Oberschichtsangehörigen des frühen Films, die nichts anderes tun, als „Sekt trinken, auf die Jagd gehen, Auto fahren [...] und Frauen anderer die Cour zu schneiden“ (Lange 1920, 47). Ähnlich visualisiert ist auch der junge Unternehmersohn, dessen Spielschulden ihn zum als Jagdunfall getarnten Vatermord treiben (RAH 13.11.2001) - mit Haartracht, Kopfhaltung, Körpersprache und Halstüchlein erinnert er an einen jungen Adeligen mit eben den genannten Tätigkeiten. Als Inkarnation schichtspezifischer Arroganz, die sich über Recht und Gesetz erhebt, wird etwa auch der Arzt vorgeführt, der einem - im Vergleich dazu geradezu aufrecht und sympathisch erscheinenden - Bankräuber die Beute raubt (RAH 17.2.2002): Er tritt frech auf, schreibt dem Richter vor, wann er was zu fragen hat, verhandelt dreist noch im Gerichtssaal mit einer bestochenen Zeugin, die ihn entlasten soll, über die Höhe des Bestechungsgeldes etc.
Weniger deutlich ist der „Schichtgegensatz“ beim Versuch einer alten Dame, ihr Säureattentat einem von ihr als „Rocker“ bezeichneten Restaurantgehilfen in die Schuhe zu schieben (RAH 4.12.2001). Doch steht neben dem Gegensatz der Generationen und ihrer Wertorientierungen hier auch derjenige differenter Milieus - mit G. Schulze (1993) gesprochen, des Niveau- und Unterhaltungsmilieus, die sich durchaus durch unterschiedliche Vermögens- und Bildungsniveaus auszeichnen. Der Verteidiger fasst zudem darin die entscheidende Botschaft der Sozialdramen zusammen: „Nicht jeder, der aussieht wie ein Straftäter, ist auch einer.“ Man kann hinzusetzen: Wenn in der Gerichtsshow die weniger Begüterten den Reichen und Mächtigen gegenübergestellt werden, sind die Letztgenannten stets die Täter. Die Typisierungen aber richten sich so auf eine doppelte Ordnungsstiftung: Sie unterstreichen die objektive Ordnung als Bedingung der Wahrung und Förderung fremden guten und gelingenden Lebens. Gleichzeitig bieten sie ästhetisch-narrative Orientierungsmuster für die Reduktion sozialer Komplexität. Dabei lehnen sie sich deutlich an fiktionale Genres und überkommene soziale Klischees an.

 

Ethische Fragen

Moderne Gesellschaften weisen eine Tendenz zur Verrechtlichung und zur moralabstinenten funktionalen Systemintegration auf. Diese Tendenz birgt gleichwohl auch eine ethische Logik in sich: Die als typisch für die Moderne betrachtete Individualisierung und Pluralisierung basiert auf einem moralischen Autonomisierungsprogramm, das jede und jeden zum Entwurf des eigenen Lebens freisetzen will. Dieses Programm führt unvermeidbar in die Pluralität normativer Orientierungen. Nicht notwendigerweise jedoch führt es zur atomisierenden Zersplitterung der Gesellschaft. Die neuere Soziologie entdeckt vielmehr inzwischen, dass die Autonomisierung nicht Bindungslosigkeit, Unverbindlichkeit und Beliebigkeit zur Folge hat. Vielmehr bedeutet sie lediglich, dass die Individuen darauf insistieren, ihre Verbindlichkeiten und Verpflichtungsbeziehungen selbst zu wählen. Aus dieser Wahl entsteht eine Pluralität lebensweltlicher Netzwerke, die intern auch Normvorstellungen bzw. Vorstellungen vom guten und gelingenden Leben teilen können.
Doch bedingt es die Autonomieorientierung dabei, dass diese Gemeinsamkeiten kaum noch allgemeingesellschaftlich verbindlich erklärt, autoritativ eingefordert und so der gesellschaftlichen Integration „von oben“ dienstbar gemacht werden können. Die normative Integration „von oben“ erfolgt deshalb entweder über funktionale Normen, durch die Einbindung der Individuen in gesellschaftliche Handlungssysteme, oder über weitgehend formales, verfahrensorientiertes Recht. Je größer die Autonomisierung und die Pluralität der subjektiven Lebensorientierungen, desto stärker muss dabei das kollektive Regelwerk des Rechts ausgestaltet und detailliert werden. Nur so kann das äußere soziale Verhalten der Individuen zueinander soweit verlässlich gestaltet und ausbalanciert werden, dass ein gedeihliches Miteinander gesamtgesellschaftlich möglich bleibt. Soll die Autonomisierung gewahrt werden, muss sich die kollektive Normierung zudem auf dieses äußere soziale Verhalten beschränken. Der individuelle Lebensentwurf mit den zugehörigen Gelingensvorstellungen muss frei möglich bleiben; kollektiv verbindlich können nur „Strukturwerte“ wie Gerechtigkeit, Sicherheit, Ordnung (Grimm 2001, 53) sein, die einen Minimalbestand der Pflichten zur „fremden Glückseligkeit“ als Rechtspflichten fixieren. Damit aber stellt das Recht auch weitgehend jenes Korpus von Regeln dar, das im Sinn eines „moralischen Grundkonsenses“ von allen eingefordert werden kann und die Bezugssphäre des gesellschaftlichen Rahmenethos - der für alle verbindlichen moralischen Orientierungen - bildet. Nicht von ungefähr bestimmt ein Kommentar des Grundgesetzes für das „Sittengesetz“, es gehe beim „heutigen Grad der Durchnormierung aller Lebensbereiche“ letztlich in der „verfassungsmäßigen Ordnung auf“ (Seifert/Hömig 1991, Art. 2 Rn. 7).
Unter diesen Bedingungen aber können Gerichtsshows grundsätzlich einen hilfreichen Beitrag zur diskursiven Festigung des gesellschaftlichen Rahmenethos leisten. Sie widmen sich ja, wie zu sehen war, vorrangig den sozialen Pflichten zur Wahrung und Förderung fremden guten und gelingenden Lebens. Nicht nur lässt sich mit ihnen demnach, wie Hold, Salesch und Herz wiederholt betont haben, größere Transparenz unseres Rechtssystems für das Publikum erreichen (vgl. etwa Hold 2002). Vielmehr kann, an den juridischen Diskurs geknüpft, so auch ein moralischer Diskurs über die genannten Pflichten beim Publikum angeregt und gefördert werden. Gleichzeitig können die Sendungen verdeutlichen, dass die individuellen Entwürfe guten und gelingenden Lebens - sofern sie mit den genannten Pflichten verträglich sind - freigelassen sein müssen und niemand moralisch verurteilt werden darf, nur weil seine Wahl nicht identisch mit den Vorstellungen eines Anderen vom gelingend-schönen Leben ist. In dieser Hinsicht ist das Format zeit- und gesellschaftsentsprechend sowie mit konstruktiven Chancen ausgestattet. Es kann Normorientierung und Toleranz gleichermaßen unterstützen.
Jedoch ist hier bewusst von „können“ gesprochen. Mit seiner Kreuzung von Fiktionalität und Faktionalität sowie der Typisierung bietet es nämlich auch ethische Probleme. Die Schwierigkeit mit der Fiktionalität liegt dabei nicht darin, dass die Fälle nicht real sind, also eine fiktive Geschichte erzählt wird. Sie findet sich darin, dass die Geschichte mit den strukturellen Mitteln fiktionaler Genres, jedoch unter Vorrang des faktionalen Gepräges und mit der Absicht faktionaler Ordnungsstiftung erzählt wird. Auf diese Weise geschieht etwas anderes, als bei einem fiktionalen Spielfilm, der realweltlich bezogene Aussagen machen möchte: Dieser hält die Differenz zwischen Fiktionalität und Faktionalität aufrecht und den Bezug so als einen zwischen zwei getrennten Sphären bewusst. Seine Realbezüge bleiben deshalb deutlich Verweise, die ihren symbolbildenden, typisierenden und interpretativen Charakter nicht verleugnen. Anders die Gerichtsshow: Sie stellt sich nicht als Interpretation der Realität, sondern als exemplarische Verkörperung derselben dar, sie zeigt keine symbolischen Bearbeitungen der Wirklichkeit, sondern Beispiele, Modellfälle für die Wirklichkeit. Da sie hierzu jedoch, wie gezeigt, ausgiebig fiktionale Muster nutzt und mit diesen gerade die Ordnung der Realität deutlicher erfassbar zu machen vorgibt, sind ihre Beispiele in Wahrheit zumindest auch Beispiele dafür, wie wir filmisch Realität fiktionalisieren, ohne dass sie sich gleichwohl als diesbezügliche Beispiele hinreichend erkennbar machen. Die erzeugte Transparenz tendiert zum Schein; in ihrem Rücken droht stattdessen Intransparenz: Die Muster fiktionalisierender Realitätsinterpretation werden nicht deutlich genug durchschaubar, sondern eher opak gemacht, und der Blick sowohl auf Fiktionalisierung als auch auf Realität wird damit tendenziell verstellt.
Dies wird problematisch vor allem durch die skizzierte Typisierung zum Zweck sozial-moralischer Orientierungsstiftung. An vor allem dieser Stelle nämlich gefährdet die Struktur der Gerichtsshows ihr positives diskursives Potential: Die Pflicht zur Wahrung und Förderung fremden gelingend-schönen Lebens wird angeschlagen, wenn die Fremden typisierend verzeichnet werden. Dies wirkt sich gerade unter den Bedingungen lebensästhetischer Orientierung und Klassifizierung negativ aus. Hier nämlich erfolgt die Identifizierung des Akzeptablen und Inakzeptablen anhand der ästhetischen Selbstinszenierung der Person. Normative Stellungnahme münzt sich dann als Achtung oder Missachtung aus. Wird diese lebensästhetische Identifizierung jedoch mit der moralischen Feststellung des allgemeinverbindlich Richtigen und Falschen kurzgeschlossen, so wirkt dies eben jener Toleranzförderung wieder entgegen, die durch die Unterscheidung der subjektiven Gestalt des gelingend-schönen Lebens von den sozialen Pflichten möglich gemacht wurde. Die Typisierung nämlich legt nicht nahe, eine Pflichtverletzung aufgrund diskursiver Begründung als Tat zu verurteilen. Sie bietet vielmehr an, diese Verletzung als spezifisch für bestimmte, durch ihre lebensästhetischen Kennzeichen erkennbare soziale Gruppen zu betrachten. Ineinander verschlungen, ist die Tat dann als zu verurteilende erkennbar, weil sie gruppenspezifisch ist, und wird die Gruppe negativiert, weil ihr solche Taten zugeschlagen werden. Bei solcher Verschlingung aber droht die Gefahr, dass an die Stelle reflexiver Stärkung der Pflichtethik bloß die intuitive Ablehnung der „Anderen“ tritt.
Damit kann die Typisierung zugleich in soziale Diskriminierung und Bestätigung schematisierter Vorurteile umschlagen. Dies kann Berufsgruppen treffen - wie im Fall des Arztes; es kann ganze Milieus diskreditieren - wie im Fall des Adeligen, des Unternehmersohnes oder der alten Dame, die alle dem Niveaumilieu zugeordnet werden können - oder Vorurteile gegen Generationen bestärken - wie erneut bei der alten Dame, die als feindselig gegenüber der jüngeren Generation als solcher gezeichnet wird. Wohlgemerkt: Ethisch prekär ist nicht die Kritik der Macht oder die Sozialkritik, die in den Sendungen auch angezielt ist. Es ist die undifferenzierte Durchführung - und undifferenziert ist sie, weil sie in der skizzierten Weise über die Lebensästhetik erfolgt. Sie begibt sich damit zugleich des diskursiven Zuschnitts, der Kritik jedoch stets auszeichnet und auszeichnen muss.
Freilich muss diese Struktur nicht notwendigerweise entsprechende „Wirkungen“ beim Publikum nach sich ziehen. Eine Auswertung der online-Foren zu RBS und RAH zeigt vielmehr, dass zumindest das interaktiv agierende Publikum die Verzeichnungen wahrnimmt und keineswegs goutiert: Die Typisierung des Arztes etwa hat dort Entrüstung und harsche Kritik am Sender hervorgerufen. Sehr lange kritische Einlassungen und auch Diskussionen folgten auf die Darstellung eines türkischen Angeklagten (RAH 14.2.2002). Gerade das letztgenannte Beispiel verweist jedoch darauf, dass entsprechende kritische Decodierungsleistungen der Typisierungen vor allem von den Betroffenen, also den Angehörigen der typisierten Gruppen, vorgenommen werden dürften. Die Gefahr, dass entsprechende Teile des Publikums das Angebot zur Bestätigung ihrer Vorurteile nutzen, ist mithin nicht ohne weiteres ausgeschlossen.
Aus der Sicht der Ethik müsste es also darum gehen, die Überkreuzung von Fiktionalität und Faktionalität dort zurückzunehmen, wo diese in Gestalt der Nutzung fiktionaler Schematisierungen und Typisierungen stattfindet. Programmkontrolle hätte sensibel darauf zu achten, ob und auf welche Weise die ästhetische Codierung zur Diskriminierung führt. Dann jedoch kann das Format seine produktiven Potenzen realisieren. Gegen feuilletonistische Diskreditierungen durch jene Intellektuellen, die das Format ebenso wenig nutzen, wie die ähnlich diskreditierten Talks, bleiben diese Potenzen daher festzuhalten.

 

 
Literatur:
  • Beck, U. (1986): Risikogesellschaft, Frankfurt a.M.
  • Bente, G., Fromm, B. (1997, Hg.): Affektfernsehen, Opladen.
  • Grimm, J. (2001): A-Moral, Anti-Moral, zügellose Moral, in: tv diskurs 17, 50-57.
  • Hieckthier, K. (1999): Genre oder Format?, in: Gottberg, J.v., Mikos, L., Wiedemann, D. (Hg., 1999): Mattscheibe oder Bildschirm?, Berlin.
  • Hold, A. (2002): Interview, in: http://www.sat1.de/richterhold/sub0001.hbs?show=richter&page=3.
  • Kant, I. (1978): Die Metaphysik der Sitten, in: Kant, I.: Werke VIII (ed. Weischedel), 2. Aufl., Frankfurt a.M., 303-634.
  • Keppler, A. (1994): Wirklicher als die Wirklichkeit?, Frankfurt a.M.
  • Lange, K. (1920): Das Kino in Gegenwart und Zukunft, Stuttgart.
  • Paus-Haase, I., Hasebrink, U., Mattusch, U., Keuneke, S., Krotz, F. (1999): Talkshows im Alltag von Jugendlichen, Opladen.
  • Richterin Barbara Salesch website (zit. als RBS 2002), in: http://www.sat1.de/richterin/format/whoiswho/home.hbs (Zugriff Februar 2002).
  • Schulze, G. (1993): Erlebnisgesellschaft, Wiesbaden.
  • Seifert, K.-H., Hömig, D. (Hg. 1991): Grundgesetz, Taschenkommentar, 4. Aufl., Baden-Baden.
  • Vogler, Ch. (1997): Die Odyssee des Drehbuchschreibers, Frankfurt a.M.
  • Willems, H., Jurga, M, (Hg., 1998): Inszenierungsgesellschaft, Opladen

 

(c) 2002 Thomas Hausmanninger und TV-diskurs

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