Thomas Hausmanninger


Überlegungen zur Herausforderung der Christlichen Sozialethik durch die ökologisch-ethische Debatte

Zu den zentralsten großräumigen Problemen dieses letzten Jahrhunderts vor der Jahrtausendwende gehört zweifellos die ökologische Krise. Sie bedroht uns radikal und verlangt unabdingbar nach begründeten Direktiven für das Handeln. Diese Direktiven aber verstehen sich nicht einfach von selbst. Sie ergeben sich auch nicht schon aus der schlichten Betrachtung der ökologischen Sachproblematik. Nötig ist vielmehr, gesollte Ziele und Handlungswege festzusetzen und zu begründen. Die systematische Frage nach dem Gesollten, seiner Eruierung und Begründung, aber fällt in die Zuständigkeit der Ethik. Bezüglich der ökologischen Krise wiederum ist insbesondere die Sozialethik gefordert. Diese Krise nämlich ist in erster Linie eine Folge der Interaktion der menschlichen Soziosysteme, der menschlichen Gesellschaften als ganzen, mit den sie umgebenden Ökosystemen. Da menschliche Soziosysteme Gegenstand der Sozialethik sind, da Sozialethik sich mit der Frage nach der ethisch geforderten Gestaltung der lebensweltlichen und systemischen Formierung menschlicher Sozialität befaßt, gehört also auch diese Interaktion mit zu ihrem Reflexionsbereich.1 Doch ist sie hierfür überhaupt gerüstet? Ihre klassischen Prinzipien - Personalität, Solidarität und Subsidiarität - sind Sozialprinzipien, d.h. sie richten sich auf die Ordnung der menschlichen Sozialverhältnisse, nicht hingegen auf die Interaktion dieser Verhältnisse mit der Natur. Die Natur scheint in der Sozialethik zumindest auf der Prinzipienebene gar nicht vorzukommen.2Legt dann aber nicht die unabweisbare, bedrängende ökologische Krise eine Revision der Sozialethik nahe? Brauchen wird gar eine Neue Ethik? Einige Ethikerinnen und Ethiker ziehen diese Konsequenz. Insbesondere mit den Schlagworten "Physiozentrik" und "Biozentrik" hat die Neue Ethik bereits einen Namen bekommen. Im folgenden will ich deshalb der damit verbundenen Herausforderung als einer sozialethischen Herausforderung nachgehen. Nach einer Skizze ihrer Hintergründe und Gestalt werde ich dabei Grundrißelemente einer ökologisch gewendeten christlichen Sozialethik benennen.

 

1. Zur Diagnose der Gründe der ökologischen Krise: Natur als Material

Auch die ökologische Debatte hat inzwischen ihre eigenen philosophischen Muster ausgebildet. Zu diesen gehört, daß die Gründe für die ökologische Krise im Rahmen einer Kritik an der Neuzeit fixiert werden. Kern dieser Kritik ist der sogenannte Anthropozentrismusvorwurf.3 Er findet sich beispielsweise bei dem Naturphilosophen Klaus-Michael Meyer-Abich und den beiden evangelischen Theologen Jürgen Moltmann und Günter Altner.4 Angesetzt wird dieser Vorwurf mit Blick auf René Descartes, also auf jenen Philosophen, bei dem man gemeinhin die neuzeitliche Wende zum Subjekt endgültig und epochal wirksam werden sieht.5 Diese Wende erscheint dabei als Subjekt-Objekt-Spaltung, die zugleich eine Spaltung von Vernunft und Natur mit dem Ziel der vollständigen menschlichen Herrschaft über die Natur ist. Descartes nämlich scheidet bekanntlich die menschliche Vernunft von der körperlichen Dingwelt und bestimmt das Wesen des Menschen als res cogitans. Alles Körperliche und damit auch die nicht-vernünftige Natur hingegen erscheint als bloß Ausgedehntes, als res extensa. Natur wird vom menschlichen Wesenskern abgetrennt und ihm als reine Gegenständlichkeit gegenübergestellt. Zugespitzt zeigt sich dies in der cartesischen Betrachtung des menschlichen Körpers als Maschine oder der Tiere als Automaten. Die gegenständliche Welt läßt sich dann mathematisch beschreiben und wissenschaftlich auf ihre Funktionsgesetze hin untersuchen. Sie wird zum Objekt des vernünftigen Subjekts und diesem zugleich verfügbar. Dabei läßt Descartes in der Tat keinen Zweifel daran, daß er diese Verfügbarkeit als Unterwerfung der Natur unter die Herrschaft des Menschen versteht: Durch die Leistungen der vernünftigen Wissenschaft soll der Mensch maitre et possesseur de la nature, Herr und Besitzer der Natur werden.6 Eine generationenübergreifende Organisation der wissenschaftlichen Forschung soll zudem den Weg eines potentiell unendlichen Fortschritts eröffnen.

 

Für Meyer-Abich, Moltmann und Altner aber führt dieses Programm drei miteinander verbundene, äußerst verderbliche Entwicklungen herauf: Eine Reduktion des Menschen auf seine Vernunft, die ihn sowohl von der äußeren wie auch seiner eigenen, inneren Natur entfremdet; eine Reduktion der Natur selbst auf ihre abstrakten Funktionsgesetze, in der sie ihrer Vieldimensionalität beraubt und geradezu entwirklicht wird; sowie eine Reduktion des menschlichen Naturverhältnisses auf Herrschaft. Insgesamt wird Natur so ihrer Eigenbedeutung beraubt und zum bloßen Dingmaterial für menschliche Zwecke gestempelt. Mit Rückgriff auf die ältere Kritische Theorie von Max Horkheimer und Theodor Adorno könnte man sagen, daß Natur durch eine sich zunehmend instrumentell auslegende Vernunft verdinglicht wird, eine Vernunft, die nur noch danach fragt, wozu etwas zu gebrauchen ist.7 Die Verbindung dieser instrumentell verdinglichenden Herrschaft mit der Vorstellung eines schrankenlosen Fortschritts erscheint dann bei Meyer-Abich, Altner und Moltmann als Wurzel der ökologischen Krise - die mangelnde Rücksicht auf die Eigenwirklichkeit und Eigenbedeutung der Natur führt zu ihrer Zerstörung und entsprechend bedrohlichen Folgen auch für den Menschen.

 

2. Der physiozentrische und biozentrische Lösungsvorschlag: Natur als Supersubjekt und Partnerin

Die Lösung der ökologischen Problematik liegt entsprechend in einem veränderten Umgang mit der Natur. Um dies zu ermöglichen, fordern viele nicht nur generell eine neue Einstellung der Menschen, sondern auch ein anderes ´alternatives´ Wissenschaftsparadigma und eine Neue Ethik. Die bisherige, insbesondere die neuzeitliche Ethik nämlich erscheint als ungeeignet für die Bewältigung der ökologischen Problematik. Sie gilt gleichfalls als anthropozentrisch fixiert. So spricht bekanntlich etwa die bedeutende Ethik Immanuel Kants, von der viele moderne Ethiken inspiriert sind, Unverfügbarkeit und Würde nur dem Menschen zu; allein dieser ist Zweck an sich selbst, während die Natur anscheinend nur als Zweck für den Menschen vorkommen kann. Einzig der Mensch darf demnach nicht verdinglicht und bloß als Mittel gebraucht werden; Achtung, als das der Würde entsprechende Verhalten, ist nur ihm entgegenzubringen. Nur dem Menschen eignen mithin auch wechselseitig zu gewährende Rechte. Die Normierung des Umgangs mit der Natur hingegen ist lediglich unter dem Aspekt ihrer Relevanz für den Menschen und menschliche Beziehungen möglich. Bei Kant zeigt sich dies etwa daran, daß das Verbot der Tierquälerei mit der Befürchtung begründet wird, jene könne zu einer Zerstörung des Mitgefühls und damit auch zu einer Gefährdung der Mitmenschlichkeit führen.8

 

In Differenz hierzu soll durch eine Neue Ökologische Ethik dafür Sorge getragen werden, daß die Natur gleichfalls Selbstzwecklichkeit zugesprochen bekommt und statt als Dingmaterial für die Zwecke menschlicher Subjekte fortan als Supersubjekt bzw. in der konkreten Normfindung als Partnerin betrachtet wird. Dies ist das Ziel etwa der physiozentrischen Ethik Meyer-Abichs. Sein Lösungsvorschlag hat eine doppelte Gestalt:9 Zum einen zielt er auf eine Ausweitung der ethischen Perspektive, die der Natur als "natürlicher Mitwelt" (statt bloßer "Umwelt") einen Eigenwert zumißt. Zum anderen fordert er eine juridische Fixierung entsprechender Normen, um die ökologisch-ethischen Erfordernisse in Gestalt von Eigenrechten der Natur durchsetzbar zu machen. Die Ausweitung der ethischen Perspektive geschieht in acht Stufen.10 Stufe eins bis fünf sortiert zwischenmenschliche Einstellungen, die von der egozentrischen Position des Solipsisten, der nur sich selbst kennt, bis zum menschenrechtlich orientierten Anthropozentriker reichen. Von hier an werden ökologisch-ethische Entwürfe aufgenommen: Auf Stufe sechs findet sich die Pathozentrik, die Schmerzempfindlichkeit zur Grenze bloßer Verfügung macht; auf Stufe sieben die Biozentrik, in der Lebendigkeit schlechthin einen Eigenwert zugesprochen bekommt. Stufe acht bietet die physiozentrische Position, die Meyer-Abich als holistische bezeichnet. Hier erhält alles, "Menschen, Tiere, Pflanzen und die vier Elemente (...) jeweils seinen Eigenwert im Ganzen der Natur [durch den] keines bloß für ein anderes da ist, sondern nur insoweit dies auch im Interesse des Ganzen ist".11 Aus dem Ganzen also, das Meyer-Abich auch die Naturgeschichte nennt und in dem alles mit allem zusammenhängt, d.h. aber auch: alles allem jeweils in irgendeiner Weise nützlich, nötig und dienlich ist, begründet sich der Eigenwert jedes Teils der Natur.12 Die Natur wird damit zum Supersubjekt, dem die menschlichen Subjekte eingegliedert sind. Erst ein Handeln, das den Eigenwert jedes Teils respektiert, kann dabei als moralisch betrachtet werden. Die Unterschiede der einzelnen Naturteile sollen zwar durchaus berücksichtigt, also beispielsweise Menschen und Blumen nicht gleichbehandelt werden.13 Doch gilt auch für den Menschen, daß die Natur nicht nur für ihn, sondern er ebenso für die Natur da ist.14

 

Prinzip der Ethik ist deshalb das Wohl der Gesamtnatur, dem sich das Wohl des Menschen zuordnen muß. Umschrieben wird dieses Wohl auch mit dem Gedanken der Perfektibilität, die außerdem in ästhetischen Termini gefaßt ist.15 Hiernach besteht das Wohl der Gesamtnatur darin, daß alles sein "Bestes" tut, d.h. sich so selbst verwirklicht, daß ein geordnet-schönes Ganzes entsteht.16 Die "Gemeinschaft der Natur" ist dabei trotz der Differenzen in der naturgemäßen Behandlung einzelner natürlicher Entitäten "grundsätzlich egalitär",17 so daß Meyer-Abich für die konkrete Bestimmung von zu wahrenden moralischen Grundrechten dieser Entitäten empfiehlt, den kantischen oder rawls´schen Universalisierungsgrundsatz auf die Gesamtnatur auszuweiten.18Als Gegenüber zum Menschen gerät die Natur deshalb zur gleichwertigen und gleichberechtigten Partnerin. Um diesem Grundsatz eine anschauliche Formulierung zu geben, schlägt Meyer-Abich vor, mit der Reinkarnationsvorstellung zu arbeiten: "Welcher menschliche Umgang mit einer anderen Art von Lebewesen angemessen wäre, ist unter der Hypothese zu ermitteln, daß Menschen als Individuen der betreffenden anderen Art und diese als Menschen wiedergeboren werden könnten".19 Der holistischen Perspektive entsprechend gilt dieser Grundsatz letztlich auch für die nichtlebendige Natur.20 Zur Durchsetzung dieses Programms sollen dann der Natur - in ähnlicher Weise wie juristischen Personen - Eigenrechte zugemessen und diese gerichtlich einklagbar gemacht werden.21 Steine, Bäume und Landschaften sowie Tiere sollen damit advokatorisch durch Umweltanwälte vor Gericht vertreten werden können.22

 

Einen ähnlichen Weg geht auch Günter Altner. Er bezieht jedoch in Anlehnung an Albert Schweitzer eine biozentrische Position, die lediglich allem Leben Eigenwert und einen Partnerstatus zumißt. Darüber hinaus rückt er das Moment des Konflikts stärker in den Mittelpunkt: Einerseits gibt es für ihn "kein lebensunwertes Leben"23, so daß bis zu Bakterien und Viren allem Lebendigen Ehrfurcht entgegenzubringen zu sein scheint. Andererseits jedoch lassen sich die ´Lebensinteressen´ der einzelnen Lebensformen nicht immer harmonisch zum Ausgleich bringen. Aus theologischer Perspektive sieht Altner den "Kreaturfrieden" erst eschatologisch zugesagt.24 Unter dem Grundsatz, daß einzig Leben erhalten und schützen Inbegriff des Guten sei, erscheint deshalb Schuldigwerden in der Welt unumgänglich. Diese Tatsache gilt es einerseits auszuhalten, andererseits ist der Mensch als Mitarbeiter Gottes dazu aufgefordert, Leid und Tod zu minimieren. Maxime hierfür ist, die Schädigung und Tötung lebender Organismen auf absolut unvermeidbare Fälle und ein Maß, das "über die natürlichen Beeinträchtigungen und Gefährdungen" nicht hinausgeht, zu beschränken.25

 

3. Christliche Anthropozentrik: Natur als eschatologisch ausgerichtete Schöpfung

Angesichts der Herausforderung der Christlichen Sozialethik durch die ökologische Krise enthalten die Konzepte von Meyer-Abich und Altner durchaus Bedenkenswertes. Trotzdem kann die christliche Sozialethik sich auch in ökologisch-ethischer Hinsicht nicht einfach in eine Neue Ethik der Physiozentrik oder Biozentrik transformieren. Seinen Grund findet dies einerseits in gewissen Inkonsistenzen dieser Positionen, andererseits im christlichen Kontext dieser Sozialethik. Beide Gründe nötigen vielmehr zu einem anthropozentrischen Ansatz. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die instrumentell-vernutzende Betrachtung der Natur als bloßes Dingmaterial nicht korrigiert werden könnte.

 

Das zentrale Problem der Positionen liegt zunächst in einer (zumeist unausgesprochenen) Nähe zu einer Vermischung von Sein und Sollen26 bzw. von theoretischer und praktischer Vernunft, die in der neuzeitlichen Philosophie nach David Hume als Sein-Sollens-Fehlschluß bzw. im Anschluß an George Edward Moore27 als naturalistischer Fehlschluß bezeichnet wird. So rügt Hume im dritten Buch seines "Treatise of Human Nature" den unvermittelten Übergang von beschreibenden Sätzen, die eine Tatsache feststellen, zu solchen, die eine Sollensvorschrift machen.28 Hierfür, so meint er, müßten Gründe angegeben werden, Gründe, die nicht schon mit einem Faktum allein gegeben sind.29 Aus einem Ist geht kein Sollen hervor; die Tatsache, das Faktum, daß etwas da ist - sei es auch etwas Praktisches wie ein Begehren - legitimiert noch nicht, das dieses auch da sein oder erfüllt werden soll.

 

Dieser Einwand trifft nun ebenso die bei Meyer-Abich beabsichtigte Ableitung von Sollensvorschriften aus der Bedeutung, die Teile der Natur für deren Ganzes und die prozessuale Selbstrealisierung der Naturgeschichte haben. Hieran ändert auch das neuere, explizite Bekenntnis zur "Seinsethik" nichts. Ineinsgesetzt nämlich werden funktionale und moralische Bedeutsamkeit oder, metaphorisch gesprochen: funktionaler und moralischer Wert.30 Beides ist jedoch nicht dasselbe. Ist-Aussagen und Beschreibungen verdeutlichen, daß und wie etwas funktioniert. Selbstverständlich kann man dann zwischen Eufunktionalität und Dysfunktionalität unterscheiden, indem man Fälle vergleicht, in denen einmal eine Funktion sich realisiert, ein andermal an veränderten Umständen scheitert. Und ebenso selbstverständlich kann man sich hierbei willkürlich auf den Standpunkt der Eufunktionalität stellen und von ihr aus die Dysfunktionalität abwerten. Damit ist jedoch noch in keiner Weise begründet, weshalb eine Funktion sein soll. Insbesondere ist weder festgestellt noch begründet, ob die Funktion moralisch wünschenswert ist. Dies nämlich läßt sich erst aus einer moralischen Perspektive leisten, die die moralische Bedeutsamkeit eines funktionalen Werts unter moralischen Prinzipien und Zielen prüft.31 An Beispielen aus der menschlichen Gesellschaft wird dies meist sehr rasch einsichtig: Der funktionale Wert, den Druckerpressen für die Funktionsfähigkeit des Mediensystems haben, stellt für sich genommen keinerlei moralischen Wert dar. Erst wenn sich dieses System und damit auch die Funktion des Teils Druckerpresse für deren Gesamtheit in irgendeiner Weise positiv ins Verhältnis zur Ermöglichung, Wahrung und Förderung menschlichen Personseins setzen läßt bzw. alle Betroffenen mit diesem System einverstanden sein können, kann die Funktion des Teils für das moralisch wünschenswerte Ganze auch selbst als moralisch wünschenswert betrachtet werden. Um der Genauigkeit willen sollte man deshalb nicht eigentlich davon sprechen, daß diese Teile dann moralischen Wert haben, sondern daß sie unter moralischen Gesichtspunkten funktional bedeutsam für die Erreichung moralischer Ziele sind.

 

Diese Differenz läßt sich auch nochmals aus einer anderen Perspektive verdeutlichen: Die funktionale Bedeutung eines Teils in einer Ganzheit ist oft durch ein funktionales Äquivalent ersetzbar. Entsprechend hat alles den gleichen funktionalen Wert, was diese Funktion zu erfüllen vermag. Anders bei moralischen Werten: Diese lassen sich keinesfalls jeweils wechselseitig ersetzen, sondern lediglich nach Ranghöhe und Dringlichkeit in der Realisierungssituation in Vorzugsordnungen bringen. Geschichtlicher Wertwandel wiederum bedeutet keine funktionale Ersetzung, sondern qualitative Veränderung. Auch dies zeigt nochmals den Unterschied von funktionalen und moralischen Werten. Gleichzeitig wird deutlich, wie inkonsistent der Versuch ist, aus der funktionalen Bedeutung von etwas für eine Ganzheit seinen Eigenwert begründen zu wollen - wertvoll ist aus der Perspektive des Ganzen letztlich die Funktion und gerade nicht der individuelle Gegenstand.32

 

In analoger Weise trifft das Urteil des Sein-Sollens-Fehlschlusses auch Altners Biozentrik. Aus der Feststellung des Vorhandenseins von Lebensformen, die alle ihre Selbsterhaltung und Selbstreproduktion besorgen, ergibt sich noch nicht deren moralische Gleichwertigkeit, ja überhaupt ein moralischer Wert ihres Daseins. Weder das Vorhandensein, noch die Selbstreproduktion eines Grippevirus in meinem Körper begründet ein moralisches Recht desselben darauf, daß ich ihn unbehandelt gewähren lassen muß - selbst wenn ich weiß, daß ich ihn durchaus überleben werde.33 Ebensowenig läßt sich aus dem Gegebensein einer Vielfalt der Natur, der Biodiversität, ein moralischer Wert derselben ableiten. Weder AIDS noch BSE sind zu konservieren, nur weil sie da sind. Auch ohne Zutun des Menschen ist andererseits das Aussterben von Arten, also die fallweise Reduktion von Biodiversität, Teil der Naturgeschichte. Weder der moralisch gefordert erscheinende Umgang mit Viren, noch die Sollensvorschrift, die Artenvielfalt möglichst zu erhalten, läßt sich also aus dem Sein der Natur (allein) begründen.

 

Wie in der Ethik Kants, die auf den Hume´schen Einwand reagiert, ist vielmehr streng zwischen Sein und Sollen, zwischen theoretischer und moralisch-praktischer Vernunft zu unterscheiden. Über die Fähigkeit zum moralischen Handeln, zur Erkenntnis moralischer Ziele und zur moralischen Wertung verfügt, soweit wir wissen, nur der Mensch. Nur der Mensch vermag auch genuin moralische Verantwortung zu übernehmen. Dies nämlich setzt Freiheit, reflexive Vernünftigkeit, Intentionalität und ein darin gegebenes Vermögen zur Selbstverfügung, zum Handlungsentwurf voraus. Moralität gibt es erst dort, wo ein Wesen prinzipiell frei ist, sich in dieser Freiheit zu sich und der Welt ins Verhältnis setzen kann sowie über die Fähigkeiten intentionaler Zielsetzung und der Entscheidung verfügt. Sie besteht deshalb eben darin, alle Wertsetzungen und wertorientierten Handlungsentscheidungen an der Wahrung und Förderung des diesbezüglichen Selbstvollzuges solcher Wesen zu orientieren - oder anders gesagt: Moralität drängt darauf, verwirklicht zu werden und findet ihren normativen Angelpunkt in der Allgemeinheit ihrer Verwirklichung. Moralität kann mithin nicht anders denn als der Inbegriff der Logik der Praxis solcher freier, selbstverfügender Vernunftwesen verstanden werden - oder erneut anders gesprochen: als der Inbegriff einer verantwortlichen Praxis, die ihr Maß wiederum an der alle hierzu fähigen Wesen einschließenden Ermöglichung, Wahrung und Förderung einer solchen verantwortlichen Praxis findet. Eben dies hat Kant mit seinem berühmten Kategorischen Imperativ auf den Punkt zu bringen versucht; und eben diese Praxis bildet auch den Kern des diskursethischen oder des rawls´schen gerechtigkeitstheoretischen Ansatzes. Im Vermögen zu dieser Praxis besteht die Einzigartigkeit des Menschen in der Naturgeschichte. Nur er ist in der Lage, bewußt und willentlich zu handeln und dieses Handeln dabei am moralischen Gesetz zu messen. Nur der Mensch vermag daher auch natürliche Antriebe und Neigungen zu reflektieren sowie Wertschätzungspräferenzen auf moralische - d.h. der genannten Praxislogik entsprechende - Prinzipien zu beziehen und so moralische Werte zu konstituieren. Moralität kommt erst mit dem Menschen in die Welt, der allein diese unter einer moralischen Perspektive betrachten kann. Daher ergibt sich auch das (moralische) Sollen in der Welt erst mit dem Menschen und seiner vernünftigen Freiheit, nicht aber läßt es sich im schlichten Sein der (nichtmenschlichen) Natur einfach vorfinden.34 Aus diesen Gründen ist die anthropozentrische Position ethisch gar nicht zu vermeiden. Die schlichte Ausweitung der kantischen, diskursethischen oder rawls´schen Universalisierungsformel hingegen verfehlt die spezifische Moralität des moralisch Normativen. Sie überspringt die Tatsache, daß der Mensch Angelpunkt, Möglichkeitsbedingung der Moralität ist - und daher letztlich auch eine Sonderstellung in der Natur einnimmt, die mit einem spezifischen Auftrag, einer, kantisch gesagt, vernunftimmanenten Selbstnötigung verbunden ist.35

 

Implizit gestehen Meyer-Abich und Altner dies sogar zu, wenn sie sagen, daß die Natur selbst nicht moralisch handeln oder Verantwortung übernehmen könne und gewissermaßen erst im Menschen zum moralischen Bewußtsein komme. Entsprechend wenig konsistent ist es, wenn sie die Natur dennoch zur Partnerin einer moralischen Interaktion erklären und dem, was nicht moralisch handeln kann, damit moralischen Subjektstatus zusprechen. Darüber hinaus könnte dies auf die Moralität verderblich zurückschlagen. Wilhelm Korff hat wiederholt darauf aufmerksam gemacht, daß die Einordnung in eine physiozentrisch oder biozentrisch moralisierte Naturgeschichte die Unverfügbarkeit des Menschen selbst, seine in der Menschenwürde fixierte Unantastbarkeit und sein Selbstverfügungsrecht aufheben könnte.36 Im Rücken der wohl in erster Linie von den Bio- und Physiozentrikern beabsichtigten Aufwertung der (nichtmenschlichen) Natur könnte sich eine äußerst prekäre Abwertung des Menschen vollziehen. Die von Altner oder auch Moltmann geforderte "Naturalisierung des Menschen", die gegen die neuzeitliche Subjekt-Objekt-Spaltung gerichtet ist, könnte ungewollt dazu führen, daß der naturalisierte Mensch plötzlich nicht mehr anders behandelt werden muß, als die Natur, d.h. etwa: in Orientierung am Maß der "natürlichen Beeinträchtigungen und Gefährdungen" ebenfalls geschädigt oder getötet werden darf - soweit es der Ausgleich der Lebensinteressen der Gesamtnatur eben erfordert. Eine solche Neue Ethik aber würde einen Rückschritt hinter die Errungenschaften der Neuzeit bedeuten, zu denen gerade die Menschenrechte gehören - eine Konsequenz, die Altner und Moltmann wohl kaum im Sinn haben.37 Auch aus diesem Grund aber erscheint die Anthropozentrik unaufgebbar.

 

Für die christliche Sozialethik ergeben sich hierfür zudem noch theologische Gründe. Mit Rückgriff auf die Heilige Schrift betrachtet die christliche Theologie Welt und Mensch als Schöpfung Gottes. Diese Schöpfung sieht sie dynamisch verfaßt und perspektivisch auf die eschatologische Vollendung im Heil hin ausgespannt. Sie ist eine eschatologisch ausgerichtete Schöpfung. Dabei erscheint jedoch nur der Mensch als imago Dei, als Bild Gottes. Nur er wird als "wenig unter Gott gestellt" (Ps 8) bezeichnet. Nicht zuletzt durch die Inkarnation erfährt diese Anthropozentrik gewissermaßen nochmals eine göttliche Ratifizierung. Gott wird Mensch - nicht Tier oder Pflanze - und in Christus als dem Ur- und Zielbild des Menschseins leuchtet die Vollendungsperspektive auf. Erst der Mensch vermag sie dann im Glauben zu erkennen. Wenn man denn also die Schöpfung im Menschen zum Bewußtsein ihrer "Gottoffenheit"38, wie Jürgen Moltmann es nennt, gelangen sieht, wenn sie im Menschen erst ihre Verwiesenheit auf Transzendenz und eine transzendente Vollendung erkennt, so bleibt auch theologisch die Anthropozentrik unhintergehbar.

 

Dieser Gedanke läßt sich zudem philosophisch unterstützen. Es ist wiederum Kant, der mit seiner Postulatenlehre deutlich gemacht hat, daß die auf eine moralische Selbstauslegung gerichtete Vernunft und Freiheit des Menschen über diese Welt hinaus auf eine transzendente Vollendung verweisen. Die Existenz eines freien und zugleich moralischen Wesens in einer Welt, in der moralisches Handeln nicht notwendig zu einem glücklichen, gelingenden Leben führt, nämlich fordert nach Kant die Annahme einer transzendenten Vollendung des moralischen Lebens.39 Andernfalls erschiene die Existenz eines freien, moralischen Wesens widersinnig - mit Albert Camus gesprochen: absurd. Es ist also die menschliche, auf Moralität gerichtete Freiheit, die eine Vollendungsperspektive in Blick bringt. Obwohl Kant auch im Rahmen der theoretischen Naturphilosophie die Idee der Freiheit annimmt, und obwohl diese Annahme heute durch die Theorie der Offenen Systeme im Rahmen eines evolutiven Naturverständnisses eine interessante Bestätigung erfährt, bleibt sie doch als theoretische Idee leer. Aus der Offenheit der offenen Systeme an sich geht nichts hervor; die moderne Evolutionslehre hat gerade diese Offenheit an die Stelle jeder materialen Teleologie, jeder Vorstellung einer inneren Zielrichtung der Naturentwicklung gestellt. Diese theoretische Idee der Freiheit aber, die darin besteht, daß sich die Entwicklung der natürlichen Welt nicht präzise vorhersagen läßt, ist in dieser Form bedeutungslos.40 Wie bei Kant wird deshalb auch heute die Idee der Freiheit erst bedeutsam in Gestalt der auf Moralität abgestellten menschlichen Freiheit. Hier erst wird eine Teleologie auf Vollendung, theologisch gesprochen: auf Heil hin erkennbar, die nun auch eine entsprechende philosophische Deutung des Naturprozesses nahelegt. Theologisch und philosophisch kommt so erst aus einer anthropozentrischen Perspektive eine Vollendungsperspektive, eine Teleologie in Blick, die den moralischen Auftrag denkbar macht, mit der Offenheit des Naturprozesses entsprechend umzugehen.

 

Christliche Anthropozentrik aber kann sich aus dieser Perspektive zum einen nicht einfach als Anthropozentrismus auslegen, der die Naturwelt als bloßes, beliebig vernutzbares Dingmaterial für menschliche Bedürfnisse und Wünsche betrachtet. Die Welt geht, mit Wilhelm Korff formuliert, nun nicht mehr darin auf, bloß für den Menschen da zu sein.41 Anders gesagt, sie ist nicht bloße Funktion menschlicher Ansprüche. Die ganze Schöpfung auf Heil hin ausgespannt sehen, heißt, dieses Heil im Umgang mit der Schöpfung soweit zur Darstellung kommen zu lassen, wie dies unter dem eschatologischen Vorbehalt möglich ist, und gerade darin den imago-Status des Menschen zu realisieren. Damit aber ist eine instrumentell-funktionale Engführung grundsätzlich durchbrochen. Gleichzeitig unterläuft dies jedoch eine physiozentrische oder biozentrische Nivellierung. Was Heil ist, erscheint, wie unvollständig unter den Bedingungen dieser Welt auch immer, in und am Menschen. Erst der Mensch vermag ein Gelingen und eine Vollendung zu denken, die mehr sind, als bloße Bedürfniserfüllung und damit einhergehendes Lusterleben.42 Von der Heils- und Unheilserfahrung des Menschen her ist deshalb auch ein Konzept der Heilsdarstellung in der Schöpfung zu entwerfen. Dabei gebietet der Sonderstatus des Menschen als imago Dei, ein der Heilsperspektive gemäßes Handeln im Umgang mit der Welt, mit der Natur, analog zu verstehen. Dieser Analogie muß durch eine entsprechend unterscheidende und genaue Terminologie in der ökologischen Ethik Rechnung getragen werden. So bleibt etwa ein pathozentrisch ausgerichteter Umgang mit Tieren, der eine solche Handlungsform im Bereich der Tierschutzethik sein kann, ein Umgang mit Tieren; angebracht ist es deshalb etwa, von Schmerzminimierung, statt von Leidverminderung zu sprechen, um die Differenz bewußt zu halten.

 

Zum zweiten erhält die christliche Anthropozentrik aus ihrer Einsicht in die eschatologische Ausgerichtetheit der Schöpfung eine zukunftsethisch relevante Perspektive. Philosophisch-ethische Anthropozentrik vermag eine auf langfristigen Erhalt der Natur gerichtete Verantwortung nur so lange zu begründen, als es Menschen gibt, die zu dieser Natur vielfältige Bezüge herstellen wollen. Daß eine Menschheit sein soll, läßt sich hingegen philosophisch schwer begründen. (Dies hat nicht zuletzt die kritische Auseinandersetzung mit der Ethik von Hans Jonas gezeigt.) Entsprechend ragt philosophisch auch die ökologische Verantwortung nur so weit in die Zukunft, als die existenten Generationen reichen bzw. beschließen, Nachkommen zu haben. Theologisch jedoch läßt sich sagen, daß die Schöpfung zu einer Vollendung unterwegs ist, die zusammen mit der Beendigung der menschlichen Geschichte Gottes Tat bleibt und der menschlichen Verfügungsmacht entzogen ist. Die theoretische Überzeugung von der geschichtlichen Ausgespanntheit der Schöpfung auf ein transzendentes Ziel ist deshalb in das moralische Kalkül einzubeziehen und führt in Vermittlung mit den moralischen Prinzipien dann zu einer entsprechend langfristigen ökologischen Perspektive. Es ist zugleich eine Perspektive, die diesen Erhalt dynamisch denkbar werden läßt und Eingriffe des Menschen in die Natur nicht einfach untersagt.

 

4. Überlegungen zu einer ökologischen Sozialethik

Aus diesen Überlegungen ergeben sich nun Konsequenzen für die christliche Sozialethik. Nicht erst im Angesicht der ökologischen Krise, sondern eigentlich schon von ihrem theologischen Hintergrund her muß diese zugleich eine ökologisch ausgerichtete Ethik sein. Dafür ist sie in der Tat bislang zu wenig gerüstet gewesen. Zwar läßt sich mit Rückgriff auf das Personverständnis eine ganzheitliche christliche Anthropologie entwerfen, die der Spaltung des neuzeitlichen Subjekts in Vernunft und Natur entgegentritt.43 Damit kann zumindest dem mit dieser Spaltung verbundenen Selbstverlust und dem Übermaß an Rationalisierung, wie sie sich nicht zuletzt in den Systemstrukturen der modernen Gesellschaft zeigt, gewehrt werden. Auch scheint eine physiozentrische oder biozentrische Transformation der Sozialethik angesichts des skizzierten Befundes nicht angebracht. Doch bedarf sie durchaus einer Erweiterung, die es ihr erlaubt, der ökologischen Frage bei ihrer Normierung der sozialen und gesellschaftlichen Strukturen Rechnung zu tragen. Diese Erweiterung muß zunächst auf der Ebene der leitenden ethischen Prinzipien geschehen. Wie eingangs bemerkt, orientieren sich die Grundprinzipien der Sozialethik vorrangig an den menschlichen Interaktionsverhältnissen und deren sozial-gesellschaftlichen Bedingungen. So stellt das Subsidiaritätsprinzip auf die strukturelle Eröffnung von Freiheit für personales Handeln und personale Selbstverwirklichung ab, während sich das Solidaritätsprinzip auf strukturellen Ausgleich von naturalen und sozial entstandenen Ungleichheiten richtet. Beide Prinzipien versuchen dabei, gesellschaftliche Verhältnisse so zu orientieren, daß diese Verhältnisse menschliches Personsein ermöglichen, wahren und fördern. Sie haben zusammen mit den Personprinzip jedoch stets dieses Personsein und die sozialen Bedingungen desselben im Blick. Nötig erscheint deshalb ein Prinzip, das das ethisch geforderte Verhältnis der menschlichen Soziosysteme zur Natur, zu den mit diesen Soziosystemen verschränkten und von ihnen betroffenen Ökosystemen zu fassen vermag.

 

Hierfür hat nun Wilhelm Korff mit Rekurs auf das lateinische Wort rete, das Netz, das Prinzip der Retinität, also der Gesamtvernetzung vorgeschlagen, das auch vom Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung aufgenommen worden ist.44 Diese Prinzip zielt auf eine grundsätzliche Rückvernetzung der sozialen und gesellschaftlichen Prozesse "in das diese tragende Netzwerk der Natur", einer Natur, die dabei grundsätzlich dynamisch verstanden wird (Tz 36).45 Aus dem Blickwinkel einer philosophischen Sozialethik kann dieses Prinzip anthropozentrisch damit begründet werden, daß die natürlichen Ökosysteme Lebensgrundlage des Menschen sind. Ihr Erhalt erscheint dann unabdingbar nötig, um eine Schädigung oder gar Vernichtung des Menschen und damit eine Verletzung seiner Personwürde zu verhindern sowie diesem Menschen eine gedeihliche Grundlage für seine Selbstrealisierung zu bieten. Abstrakter und zugespitzter gesprochen: Mit der Moralität als spezifisch menschlicher Potenz in der Welt ist zugleich das Gebot, die Bedingungen für ihre Realisierung zu gewährleisten, gegeben. Diese Bedingungen schließen zuallererst den Erhalt des Menschen als Träger der Moralität ein. Bei der weiteren Entfaltung der Ethik erscheint dann von der Sonderstellung des Menschen in der Natur her gefordert, zugleich Bedingungen für seine Selbstentfaltung generell zu sichern. Dabei läßt sich auch von einer philosophischen Anthropozentrik durchaus die Vieldimensionalität der Natur in diese Erhaltungsforderung einbringen - angesichts Vielfalt der möglichen menschlichen Bezüge zu dieser Natur und der Bedeutung wiederum dieser Bezüge für menschliches Gelingen erscheint es moralisch geboten, auch die Vielfalt der Natur und ihrer Dimensionen zu erhalten. Hierzu gehört nicht zuletzt die ästhetische Dimension. Nimmt man philosophisch-theologisch zudem den Gedanken der Ausgespanntheit auf Vollendung und Heil mit hinzu, so ergibt sich die Anforderung, dieser Ausgespanntheit in einer entsprechend schonenden, biophilen Art und Weise der Rückvernetzung gerecht zu werden.

 

Dabei bleiben die Sozialprinzipien der christlichen Sozialethik durchaus in Geltung. Die durch das Retinitätsprinzip geschehende Erweiterung der Sozialethik bedeutet lediglich, daß bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Strukturen, insbesondere der gesellschaftlichen Subsysteme, wie der Wirtschaft, neben Subsidiarität und Solidarität auch die Retinität zu berücksichtigen ist. Die gesellschaftlichen Strukturen sollen nicht nur hinreichend freiheitseröffnend und auf den Schutz Schwacher ausgerichtet, sondern ebenso hinreichend naturerhaltend sein.46 Alle drei Prinzipien sind dabei dem Personprinzip zuzuordnen und erhalten hieraus ihre spezifische Bedeutung. Auf diese Weise ist das Anliegen Meyer-Abichs aufgenommen, jedoch aus einer anthropozentrischen Perspektive: Dem Ganzen und der Bedeutung seiner Teile ist durchaus Rechnung zu tragen; gleichwohl erscheint dieses Ganze jetzt als eine vom Menschen und - theologisch gesprochen - seiner Einsicht in eine transzendente Teleologie her verstandene Welt. Die strukturelle Gestaltung des menschlichen Wohls geschieht nach eigenständigen Prinzipien, die nicht auf die Natur übertragen werden, und wird dennoch durch ein spezifisches Prinzip für die Berücksichtigung der Natur ergänzt. Der Gefahr einer Nivellierung des Menschen zum gleichgültigen Teil des Ganzen ist so grundsätzlich gewehrt. Ebenso ist das biophile Anliegen Altners aufgegriffen und dennoch auch hier die Nivellierung vermieden. Aufnehmen läßt sich darüber hinaus auch die Bemühung beider um eine rechtliche Flankierung der Einhaltung ökologisch-ethischer Forderungen. Als Rechtsprinzip hierfür läßt sich formulieren, daß rechtliche Regeln für die dynamische Ordnung sozialer und gesellschaftlicher Strukturen zugleich auf den dynamischen Erhalt der Ökosysteme abzustellen haben.

 

Ein erstes Beispiel für den Versuch der Verwirklichung einer hinreichend vernetzten Organisation gesellschaftlichen Handelns bietet für das Subsystem der Wirtschaft das Konzept der zirkulären Ökonomie.47 Knapp zusammengefaßt geht es dieser darum, ein Wirtschaften zu ermöglichen, das der Natur nur so viele Rohstoffe entnimmt, als diese regenerieren kann, und nur so viele Schadstoffe ausstößt, als diese zu assimilieren vermag. Gleichzeitig soll der Verbrauch nichtnachwachsender Rohstoffe durch Schaffung entsprechender Substitute kompensiert werden.48 Damit wäre ein erster Schritt zur Umsetzung des Retinitätsprinzips getan. Das Beispiel verweist jedoch auch darauf, daß sich die ökologischen Erfordernisse nur erfüllen lassen, wenn zugleich ein verändertes Verständnis von Fortschritt Platz greift: An die Stelle der schrankenlosen Maximierung, einer zukunftsblinden Wachstumsideologie muß die Einsicht treten, daß Fortschritt nur sein kann, was - mit Korff gesprochen - "von den Bedingungen der Natur mitgetragen wird".49 So formuliert legt sich dann freilich auch ein Wechsel der Begriffe nahe. Statt von Fortschritt wäre nun besser von Entwicklung zu sprechen. Diesen terminologischen Paradigmenwechsel empfiehlt in Hinsicht auf die Problematik des Nord-Süd-Gefälles vor allem die Sozialenzyklika "Sollicitudo rei socialis". Durch die Deklaration der UN-Konferenz von 1992 in Rio de Janeiro läßt er sich jedoch zugleich mit dem neuen, globalen Leitbild des sustainable development, einer dauerhaft-umweltgerechten Entwicklung - wie der deutsche Umweltbericht 1994 übersetzt - verbinden. Mit dem Entwicklungsbegriff kann daher das letztlich gemeinsam zu verfolgende Programm einer sowohl humanen als auch ökologischen Reform der gesellschaftlichen und globalen Strukturen, der Ermöglichung menschlichen Wohls, globaler Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung allgemein kommunikabel gefaßt werden. Nicht zuletzt die hier ausgesparte globale Problematik verweist jedoch auch darauf, welche enormen Dimensionen die Aufgaben haben, die sich einer ökologisch erweiterten christlichen Sozialethik stellen. Dennoch kann allein eine solche wirklich eine christliche Sozialethik sein.

 

(c) 1999 Thomas Hausmanninger und Echter Verlag Würzburg

 

1 Zu diesem Selbstverständnis von Sozialethik vgl. auch:
  - Korff, W.: Was ist Sozialethik?, in: MthZ 1987/4, 327-388
  - Hausmanninger, Th.: Christliche Sozialethik in der späten Moderne, in: ders. (Hg.): Christliche Sozialethik zwischen Moderne und Postmoderne, Paderborn 1993, 45-90
  - Schramm, M.: Religion und Moral in der Moderne, in: Holderegger, A. (Hg.): Fundamente der Theologischen Ethik, Freiburg i.Ue. - Freiburg i. Br. - Wien 1996, 385-404
  - Wilhelms, G.: Die Ordnung moderner Gesellschaft, Stuttgart -Berlin - Köln 1996
  - Hausmanninger, Th.: Sozialethik als Strukturenethik, in: Höhn, H.-J. (Hg.): Christliche Sozialethik interdisziplinär, Paderborn 1997, 59-88.

 

2 Möglicherweise ist dies mit ein Grund, weshalb Probleme der ökologischen Ethik im katholisch-theologischen Kontext bislang eher von der Moraltheologie aufgenommen worden sind (Vgl. insbesondere: Irrgang, B.: Christliche Umweltethik, München - Basel 1992). Vermittelt über Sexualethik und individualethische Probleme des Lebensschutzes war diese immer schon weitaus stärker zur Thematisierung des Naturbegriffes angehalten, als die Sozialethik. Eine Ausweitung dieser "naturbezogenen" Fragestellungen und der Anschluß an die philosophische "Bioethik" - bzw. der Diskurs mit dieser -, die neben dem humanen auch nach dem nichtmenschlichen Leben frägt, dürfte deshalb naheliegend erschienen sein. Auf diese Weise aber gerieten nicht nur Probleme des Tierschutzes, sondern auch umweltethische (ökologische) Fragestellungen in die Moraltheologie, Fragen also, die das Verhältnis gesellschaftlichen Handelns und des gesellschaftlichen Systemprozesses zu den Ökosystemen betreffen. Insoweit es sich hierbei nun jedoch um ein strukturethisches Problemfeld handelt, ist damit letztlich der Bereich der sozialethischen Fragestellung betreten (und die Moraltheologie - streng genommen - verlassen). - Vgl. hierzu auch: Höhn, H.-J.: Technik und Natur: Perspektiven einer Ökologischen Sozialethik, in: ders., Sozialethik 263-290; Vogt, M.: Ethische Urteilsfindung im Spannungsfeld zwischen ökologischen, sozialen und individuellen Erfordernissen, in: Fischer, A. (Hg.): Sustainability-Ethos, Hattingen 1995, 23-40.

 

3 Insofern die Debatte um die ökologische Ethik nun schon seit geraumer Zeit geführt wird, möchte man annehmen, daß sich inzwischen ein Konsens herausgebildet habe - ein Konsens insbesondere auch darüber, ob und inwieweit sich eine anthropozentrische Position vertreten läßt und ob und inwieweit andere Positionen argumentativ tragfähig sind. Mitunter kann man daher auch lesen, die Debatte um die Anthropozentrik sei inzwischen abgeschlossen. Sie ist es jedoch mitnichten - die "Argumentationslage in der ökologischen Ethik" ist nach wie vor "noch nicht sehr übersichtlich" (Krebs, A.: Ökologische Ethik I: Grundlagen und Grundbegriffe, in: Nida-Rümelin, J. (Hg.): Angewandte Ethik, Stuttgart 1996, 346-385, hier 352) und die Kollisionen zwischen den allerdings mittlerweile typisierbaren Positionen sind noch keineswegs einem "überlappenden Konsens" (J. Rawls) gewichen. Gerade in der Grundlagendiskussion fehlt eine allgemein geteilte Grundlage. Hier aber bildet das Anthropozentrikthema den zentralen Fokus. Nicht von ungefähr bietet in Deutschland deshalb der prominenteste Vertreter einer umfassenden ökologischen Ethik, K. Meyer-Abich, in seinen jüngsten Veröffentlichungen wieder alle argumentativen Kräfte gegen die Anthropozentrik auf (vgl. Meyer-Abich, K.: Praktische Naturphilosophie, München 1997; Meyer-Abich, K. (Hg.): Vom Baum der Erkenntnis zum Baum des Lebens, München 1997). Daher sei diese Thematik auch hier explizit aufgenommen.

 

4 - Vgl. Meyer-Abich, K.: Wege zum Frieden mit der Natur, München - Wien 1984
  - Meyer-Abich, K.: Aufstand für die Natur, München - Wien 1990
  - Meyer-Abich, K.: Eigenwert der natürlichen Mitwelt und Rechtsgemeinschaft der Natur, in: Altner, G. (Hg.): Ökologische Theologie, Stuttgart 1989, 254-276
  - Meyer-Abich, Naturphilosophie
  - Meyer-Abich, K.: Mit-Wissenschaft: Erkenntnisideal einer Wissenschaft für die Zukunft, in: Meyer-Abich, Baum 19-161
  - Altner, G.: Naturvergessenheit, Darmstadt 1991
  - Moltmann, J.: Gott in der Schöpfung, München 1987
  - Moltmann, J.: Gerechtigkeit schafft Zukunft, München - Mainz 1989.

 

5 - Vgl. Meyer-Abich, Wege 182, 202, 205, 231
  - Meyer-Abich, Naturphilosophie 158f, 164
  - Meyer-Abich, Mit-Wissenschaft 26, 29 et passim
  - Altner, Naturvergessenheit 2f, 11-16, 114
  - Moltmann, Gott 41, 253-255, 315.

 

6 Vgl. Descartes, R.: Discours de la Méthode, ed./übs. L. Gäbe, Hamburg 1990, VI,2.

 

7 Vgl. Horkheimer, M., Adorno, Th.W.: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1988, 9-50. Prägnant und plastisch formulieren beide diesen Zusammenhang ebd. 46, wenn sie den Begriff, das Zentralprodukt der Vernunft, als "das ideelle Werkzeug" apostrophieren, "das an die Stelle an allen Dingen paßt, wo man sie packen kann". - Die Möglichkeitsbedingung für eine neuzeitliche Auslegung der Vernunft als instrumentelle würde ich im Unterschied zur Kritischen Theorie und mit Rückgriff auf die Untersuchungen von Hans Blumenberg in der Voluntarisierung des Gottesbegriffs durch den Nominalismus sehen, die das klassische "erkenntnistheoretische Dreieck" aufhebt: War in diesem Dreieck eine Erkenntnisbeziehung zwischen menschlicher Vernunft und der Vernünftigkeit der Welt dadurch verbürgt, daß beide gleichermaßen die Schöpfung eines selbst wiederum vorwiegend als Vernunftwesen verstandenen Gottes galten, und besaß in dieser Beziehung die Welt eine sowohl objektiv signifikante wie auch erkennbare sinnhafte Ordnungsstruktur, eine nicht ohne weiteres für menschliche Interessen verfügbare Eigenbedeutung, so zerstört die nominalistische Voluntarisierung insbesondere die Absicherung der objektiven Erkennbarkeit und damit auch die erkennbare Objektivität und selbständige Signifikanz der Welt (vgl. Blumenberg, H.: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt 21988, 205-233, 458). Folge der nominalistischen Verunsicherung ist eine theoretische und praktische Rückbeugung auf menschliche Subjektivität als Horizont und Voraussetzung des menschlichen Weltverhältnisses. Von hier aus führt der Weg die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Welt zunehmend auf den Weg einer Modellbildung, die, weil die Welt jetzt zumindest nicht mehr eine eindeutig erkennbare, sinnhafte Ordnungsstruktur zeigt, relativ frei bestimmen kann, was ihr die Welt sein soll. Damit wird die Welt schon auf der Ebene der erkenntnistheoretischen Grundlegung zu einem Gegenstand menschlicher Verfügbarkeit - zunächst allerdings lediglich im Sinn der Konstruktivität: Wissenschaftliche Welterkenntnis ist neuzeitlich unvermeidlich eine modellbildende, hypothetische Welt(re)konstruktion. Diese Konstruktivität ist jedoch weder per se identisch mit der Verengung der Vernunft auf ihre instrumentelle Gestalt, noch notwendig darauf angelegt. Sie macht es lediglich in gegenüber der Vorneuzeit radikalisierter Weise möglich, die Welt(re)konstruktion unter instrumentellen Gesichtspunkten vorzunehmen. Descartes´ Intentionen gehen ohne Zweifel in diese Richtung: In den "Principia" fundiert er unter Beiziehung des nominalistischen Gottesbildes den modellbildenden (hypothetischen) Charakter der neuzeitlichen Wissenschaften (Descartes, R.: Die Prinzipien der Philosophie, übs./erl. A. Buchenau, Hamburg 81992, 4,204); im "Discours" mit dem bereits zitierten Diktum der menschlichen Herrscherstellung gegenüber der Natur die instrumentelle Perspektive des Vernunftgebrauchs. Doch ist dies nicht die einzig mögliche Konsequenz der neuzeitlichen Wende zum Subjekt und zu einem konstruktiven Verständnis der Erkenntnisgewinnung. Daher halte ich im Unterschied zur klassischen Kritischen Theorie die Vorherrschaft der instrumentellen Vernunft in der Moderne nicht für unkorrigierbar.

 

8 Vgl. Kant, I.: Die Metaphysik der Sitten, ed. W. Weischedel, Frankfurt 1978, 578 [Tugendlehre A 108].

 

9 Programmatisch zusammengefaßt in: Meyer-Abich, Eigenwert.

 

10 Vgl. dazu: Meyer-Abich, Eigenwert 260-262; auch noch: Meyer-Abich, Naturphilosophie 463.

 

11 Meyer-Abich, Eigenwert 262; vgl. auch: Meyer-Abich, Naturphilosophie 352, 364: "Mitsein ist ein Grundverhältnis, in dem alles seinen Platz und seinen je besonderen Wert nur in der Einheit und Ordnung des Ganzen hat"; "Jedes Ding oder jedes Lebewesen hat seinen Eigenwert nicht je für sich, so wie es gerade angetroffen wird, sondern nach seiner Einzelnatur im Ganzen der allgemeinen Natur".

 

12 Zur Dienlichkeit vgl. auch: Meyer-Abich, Naturphilosophie 354: "Die Grunderfahrung des Mitseins in der Gemeinschaft der Natur ist die Angewiesenheit aufeinander und das Leben voneinander, nachdem `diese Welt eine so wunderbare Ökonomie´ erhalten hat, ´daß jeder verpflichtet ward, anderen zu dienen" (Zitat im Zitat Carl von Linné).

 

13 Vgl. Meyer-Abich, Naturphilosophie 365: "In der Gemeinschaft der Natur ist derjenige Umgang angemessen, in dem alle Dinge und Lebewesen gleichermaßen naturgemäß, d.h. ihrer Natur nach und dementsprechend verschieden behandelt werden."

 

14 Vgl. Meyer-Abich, Eigenwert 263; Meyer-Abich, Naturphilosophie 351f: Im "symmetrischen Mitsein", das Meyer-Abich projektiert, hat nicht nur die Natur "für uns, sondern [haben] wir gleichermaßen für sie dazusein".

 

15 Ein dem Wohl der Gesamtnatur unterstelltes menschliches Handeln bringt "aus dem Mitsein in Schönheit etwas hervor" (Meyer-Abich, Naturphilosophie 367).

 

16 Mithin besteht also das Wohl der Gesamtnatur im perfektiblen Zusammenspiel aller Teilelemente, wobei im Unterschied zur mittelalterlichen scholastischen Vorstellung die Spitze dieses Zusammenspiels nicht mehr der Mensch und seine Geschichte, sondern letztlich dieses Zusammenspiel (gemäß der Maxime der universalisierbaren Selbstrealisierung aller Teilperfektibilitäten, vgl. oben im Text) selbst ist. Die Ästhetisierung orientiert sich an Platon. Man wird sich daher wohl nicht vergreifen, wenn man die angezielte Schönheit hier im Sinn der taxis-Lehre des frühen Platon begreift.

 

17 Meyer-Abich, Naturphilosophie 365.

 

18 Vgl. Meyer-Abich, Naturphilosophie 370.

 

19 Meyer-Abich, Naturphilosophie 366.

 

20 Vgl. Meyer-Abich, Naturphilosophie 366, wo zur Konkretion des Grundsatzes nicht nur auf Bäume und Fische, sondern auch auf Steine rekurriert wird. Die Frage, "ob ein Stein behauen" werden darf, muß folglich ähnlich geprüft werden, nämlich gleichfalls auf ihre Universalisierbarkeit hin. Meyer-Abich arbeitet dabei zusätzlich mit dem Gedanken einer transformatorischen Perfektibilität: In der Welt darf durchaus auch etwas verändert werden (ebd. 371), da alles ja nicht seinen Wert nur aus sich, sondern aus seiner Stellung im Ganzen der Naturgeschichte und seiner Funktionstüchtigkeit für dieses Ganze erhält. Daher kann es für Meyer-Abich durchaus in der ´Natur´ beispielsweise eines Steines liegen, sich als Statue zu vollenden, oder in der ´Natur´ des Flachses, zum Leinen und Gewand zu werden (vgl. ebd. 368, 371f). Trotz dieser ´anthropozentrischen´ Beispiele soll es jedoch nicht die menschliche Wertung sein und bleiben, die diese Perfektibilität festlegt. Es ist vielmehr die Natur(geschichte) selbst, die als Supersubjekt Perfektibilitäten bestimmt (vgl. etwa ebd. 368). Daher ist die Perfektibilität des Menschen (festgelegt als Kulturschaffen, in dem beispielsweise der Stein behauen und der Flachs gesponnen wird) ihrerseits nicht die Spitze, sondern funktional für die Perfektibilität des Ganzen der Naturgeschichte, die "sich auch mit uns und allen anderen Naturen" forttreibt (ebd. 368), sowie dieser untergeordnet. Daß das schöne Wohl der Gesamtnatur konsequent gegen die Anthropozentrik gedacht ist, es also immer noch um das ´Interesse des Ganzen´ als Moralprinzip geht, macht Meyer-Abich unverstellt deutlich, wenn er um dieses Wohls (beispielsweise eines Waldes) willen das Leben des Menschen zur Disposition stellt - und dies selbst dann, wenn die Vernichtung eines Waldes die menschlichen Existenz nicht bedroht (vgl. ebd. 367; auch nochmals weiter unten).

 

21 Vgl. Meyer-Abich, Naturphilosophie 369f.

 

 

22 Vgl. Meyer-Abich, Eigenwert 273.

23 Altner, Naturvergessenheit 69.

 

24 Altner, Naturvergessenheit 95.

 

25 Altner, Naturvergessenheit 71.

 

26 Meyer-Abich spricht diese Vermischung allerdings inzwischen unverstellt geradezu als Programm aus: Er betrachtet seinen physiozentrischen Ansatz jetzt als "Seinsethik", die er einer "bloße(n) Sollensethik" entgegenstellt (Meyer-Abich, Naturphilosophie 292).

 

27 Vgl. Moore, G.E.: Principia Ethica, Cambridge 1994, 62.

 

28 Vgl. Hume, D.: A Treatise of Human Nature, Oxford 21978, III,I.1 469.

 

29 Vgl. ebd.

 

30 Der funktionale Aspekt ergibt sich bei Meyer-Abich nun auch aus seiner Verarbeitung der antiken Philosophie. Im Begriff der aretä, den Meyer-Abich nutzt, um die Perfektibilitäten und ´Bestheiten´ der naturalen Entitäten zu benennen, ist schon im antiken Gebrauch stets das Moment der Funktionstüchtigkeit enthalten. Eben deshalb bleibt ja auch die Übersetzung des aretä-Begriffs mit dem deutschen Wort "Tugend" immer etwas schief und unzureichend. Die aretä meint gerade nicht (vorrangig) einen von Moralität getragenen Habitus, sondern etwas, das gelobt wird, weil es sich als etwas funktional Hochentwickeltes, "Tüchtiges" erweist. Nur so ist verständlich, weshalb etwa bei Aristoteles die Fähigkeit, Prinzipien zu verwenden und logische Schlüsse zu vollziehen, als eine aretä, als dianoetische (vernunftbezogene) "Tugend" erscheinen kann. Wo etwas sein Wesen verwirklicht, seine Fähigkeiten und Anlagen optimal entwickelt und sich kontextuell als geschickt und dienlich erweist, da ist es "gut". Der Wert, der einer Entität qua aretä damit zugesprochen wird, ist jedoch funktional. Nicht anders verhält es sich mit Meyer-Abichs Bestimmung von Wertvollem: Eigenwert hat etwas qua Dienlichkeit für ein Gesamt, für das schöne Wohl der Gesamtnatur, das zugleich Kriterium für die Bestimmung der spezifischen Perfektibilität von etwas ist (vgl. dazu auch die Differenzsetzung zwischen "eigentlicher" und "uneigentlicher (Wesens-)Natur" in Meyer-Abich, Naturphilosophie 295). Bestimmt wird mithin nicht moralische Güte, sondern funktionale Güte. Die Kehre in die Vermischung von Sein und Sollen mit Rekurs auf die antike Philosophie zu unternehmen, macht diese dabei argumentativ nicht besser - sie führt sie lediglich auf den Stand der dort schon gegebenen argumentativen Schwierigkeiten zurück.

 

31 Bei Immanuel Kant verdeutlicht sich dies in der Unterscheidung von empirisch bedingten, hypothetischen und moralisch bedingten, kategorischen Imperativen: Ich kann so beispielsweise den Standpunkt der Eufunktionalität einnehmen und sagen, daß ich diese und jene Funktion eben will. Hierbei entsteht ein hypothetischer Imperativ, der seine Begründung in meinem empirischen Willen findet - wenn ich diese Funktion will, dann soll sie aus diesem Grund sein. Empirisch wollen aber kann ich vielerlei, auch Unmoralisches. Ein moralisches Wollen und damit eine moralische Auszeichnung einer Funktion hingegen liegt erst vor, wenn ich nachweisen kann, daß der Sollenssatz (bei Kant vermittelt über eine allgemeinere Maxime) mit dem Kategorischen Imperativ übereinstimmt, oder diskursethisch gesprochen, daß alle Betroffenen mit der Zulassung oder Ermöglichung dieser Funktion einverstanden sein können und ihr Subjektstatus gewahrt bleibt. - Zu den empirisch bedingten, hypothetischen Imperativen bei Kant vgl. etwa: Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (ed. Weischedel), Frankfurt 1978, 79 [BA 94].

 

32 Mit der Begründung individueller Werthaftigkeit hat Meyer-Abich daher auch seine Schwierigkeiten. Die "Naturphilosophie" setzt wiederholt dazu an, versackt aber notwendig immer wieder im Vorrang des Ganzen, im Kollektivismus der Naturgemeinschaft. Die einzelne menschliche Person kommt über den Status eines Rädchens nicht hinaus - und daher auch nicht über den Status der Austauschbarkeit und Gleichgültigkeit vor dem Angesicht der Naturgeschichte.

 

33 Das Beispiel mag ironisch klingen. Nicht nur bei Altner, sondern auch in Meyer-Abichs Ansatz drängt sich diese Überlegung geradezu auf: Nach Meyer-Abich soll ich - wie zu sehen war - einen umweltethischen Universalisierungstest machen, indem ich mir vorstelle, ich könne als eine andere Entität wiedergeboren werden. Läßt man sich nun überhaupt darauf ein, daß dieser Test dazu nötigt, kontrafaktisch allen Entitäten, auch den Bäumen und Viren einen Willen und Interessen zu unterstellen, so müßte der Grippevirus in der Tat ein Interesse daran haben, nicht medikamentös ausgerottet zu werden (und dies auch dann, wenn er sich seinerseits vorstellt, als Mensch wiedergeboren zu werden). Soweit die Grippe mich nicht meinerseits tötet, könnte eine für beide Seiten konsensfähige Maxime tatsächlich darin bestehen, daß ich die Grippe (eventuell noch modifiziert durch Einführung eines Erträglichkeitsrahmens) gewähren lassen muß. Man könnte entsprechend der Heranziehung von Rawls durch Meyer-Abich diese Maxime sogar noch mit dem rawls´schen Differenzprinzip unter der Maximinregel untermauern: Ungleichheitsverhältnisse wären dann so einzurichten, daß auch der Schwächste hiervon noch den größten Vorteil hätte. Dieser Schwächste aber ist angesichts der pharmakologischen Möglichkeiten des Menschen zweifellos der Grippevirus. Ich denke, das Beispiel illustriert deshalb die Bizarrerie, die aus der Übertragung der auf die transzendentale Freiheit von Vernunftwesen gestützten Universalisierungsregel auf alle nichtmenschlichen Entitäten hervorgeht.

 

34 Kant schreibt deshalb bereits in der "Kritik der reinen Vernuft": "Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt. Der Verstand kann von dieser nur erkennen, was da ist, oder gewesen ist, oder sein wird. Es ist unmöglich, daß etwas darin anders sein soll, als es in allen diesen Zeitverhältnissen in der Tat ist, ja das Sollen, wenn man bloß den Lauf der Natur vor Augen hat, hat ganz und gar keine Bedeutung". (Kant, I.: Kritik der reinen Vernuft (ed. Weischedel), Frankfurt 1978, 498 [B 575; A 547]).

 

35 Ähnlich argumentiert Irrgang, Umweltethik 315-328, der einmal auf die Unhintergehbarkeit methodischer Anthropozentrik im Bereich der theoretischen Vernunft, also auf die unvermeidbare Subjektkonstituiertheit aller Erkenntnis abhebt, zum anderen die anthropozentrische Konstitution von Moralität überhaupt mit Kant andeutet und schließlich auch eine materiale Anthropozentrik im Sinn einer normativen Bedeutung der Sonderstellung des Menschen in der Naturgeschichte einführt.

 

36 Vgl. etwa: Korff, W.: Wirtschaft vor den Herausforderungen der Umweltkrise, in: Zur kirchlichen Berufsethik - Kirche im Gespräch 22/1991, 9-36, hier 18-22.

 

37 Meyer-Abich allerdings kommt einer solchen Konsequenz mitunter unerfreulich nahe. Wie weiter oben angedeutet, steht für ihn das Lebensrecht des Menschen nicht mehr vorrangig zur Natur. Wo Carl Friedrich Gethmann die physiozentrisch prinzipiell denkbare Möglichkeit, "daß sich das Lebensrecht eines Menschen dem Eigenrecht etwa eines Tieres zu unterwerfen hätte", noch kritisch als "ethische(s) Paradox" (Gethmann, C.F.: Naturgemäß handeln?, in: Gaia 2(5)/1993, 246-248, hier 246) bezeichnet, äußert Meyer-Abich die "grundsätzliche Bereitschaft, notfalls nicht um den Preis, daß ein Wald stirbt, überleben zu wollen" (Meyer-Abich, Naturphilosophie 367). Und diese Bereitschaft gilt "auch dann, wenn das Sterben des Walds nicht wiederum Menschenleben gefährden würde". Hier scheint die Befürchtung Korffs Realität geworden zu sein, daß der Mensch für die Physiozentrik letztlich "so erhaben und gleichgültig" wie die Natur werden könne (Korff, Wirtschaft 19). Damit sei nicht unterstellt, daß Meyer-Abich tatsächlich auf die Auflösung der Menschenrechte zielt. Er muß sich jedoch fragen lassen, ob Sätze, wie die genannten, nicht in dieser Richtung gelesen werden könnten - und dies nicht trotz, sondern wegen seines physiozentrischen Ansatzes. Soweit das Wohl der Gesamtnatur, die taxis-hafte Naturgeschichte zudem ästhetisiert wird, frägt sich außerdem, wie Meyer-Abich dem Gedanken physiozentrisch entgegentreten können will, das schöne Gesamtwohl, die Hervorbringung des spezifischen "Besten" durch alle Teilentitäten, müsse menschlicherseits auch dadurch angegangen werden, daß das Häßliche, Mißgebildete durch Zuchtwahl bzw. Reproduktionsverbote für bestimmte Menschen ausgeschaltet wird.

 

38 Vgl. Moltmann, Gott 213 in Verbindung mit 197.

 

39 Vgl. Kant, I.: Kritik der praktischen Vernunft (ed. Weischedel), Frankfurt 31978, 252-264 [A 220-238].

 

40 In dieser Hinsicht erscheinen mir die Überlegungen Moltmanns in Moltmann, Gott 205-214 daher etwas (im kantischen Sinn) ´überschwenglich´. Mit Blick auf das moderne Naturverständnis und die moderne Kosmologie wäre außerdem Meyer-Abichs Naturbild anzufragen - mit seiner Romantisierung und Re-Teleologisierung bleibt es hinter der modernen naturwissenschaftlichen Herausforderung sinndeutender geisteswissenschaftlicher Theoriebildung zurück.

 

41 Vgl. Korff, Wirtschaft 24.

 

42 Vgl. dazu auch: Irrgang, B.: Hat die Natur ein Eigenrecht auf Existenz?, in: PhJ 27/1990, 327-339, hier 328f.

 

43 Vgl. dazu auch: Hausmanninger, Sozialethik 62-71; Hausmanninger, Th.: Die Krise der Moderne im Licht einer christlichen Sozialethik, in: Holderegger, Fundamente 362-384. - Die Anthropologie erscheint zudem wichtig, um vom relativ abstrakten Ansatz der Ethik mit einem formalen Moralprinzip zu einer materialen Ethik mit verallgemeinerbaren materialen Prinzipien und Maximen zu gelangen. Sie ermittelt "Handlungsmöglichkeiten und Handlungsgrenzen, wahrscheinliche Zwecksetzungen, mittelfristig konstante Bedürfnisse, die entsprechenden faktischen Präferenzen und vor allem das kulturelle Selbstverständnis und Selbstverhältnis des Menschen" (Wils, J.-P.: Die große Erschöpfung, Paderborn 1994, 107). Entsprechend kann sie als ´hermeneutischer Zwischenschritt´ zwischen Ethikbegründung (als Begründung des Moralprinzips) und konkreter, angewandter Ethik (als Begründung materialer Maximen und Handlungsregeln) betrachtet und genutzt werden (vgl. ebd. 96-109). - Auf die Notwendigkeit materialer (und damit geschichtlich-kulturell und empirisch rückgebundener wie auch relativer) Verallgemeinerungen in der Ethik verweist auch: Tugendhat, E.: Antike und moderne Ethik, in: ders.: Probleme der Ethik, Stuttgart 1994, 33-56; Tugendhat, E.: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt 1995.

 

44 Vgl. Korff, Wirtschaft 25; Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen: Umweltgutachten 1994, Stuttgart 1994, 54 (Tz 36).

 

45 Vgl. dazu auch: Vogt, M.: Retinität: Vernetzung als ethisches Leitprinzip für das Handeln in komplexen Systemzusammenhängen, in: Bornholdt, St., Feindt, P.H. (Hg.): Komplexe adaptive Systeme, Dettelbach 1996 (= FiF 15), 159-198.

 

46 Die Beschränkung auf die Erhaltung läßt sich dabei - wenn ich es recht sehe - erst theologisch vollständig plausibel begründen. Vom anthropozentrischen Ansatz her nämlich ließe sich durchaus fragen, ob mit dem Auftrag dazu, die moralische Perspektive in den Weltverlauf einzubringen, nicht auch der Auftrag verbunden sein könnte, diesen Weltverlauf auch in der nichtmenschlichen Natur zu moralisieren, also beispielsweise einen friedlicheren Umgang der Tiere untereinander herzustellen. Philosophisch läßt sich hiergegen lediglich anführen, daß der Mensch sich mit einer solchen Ausweitung seines moralischen Auftrags überfordere - Ökosysteme, die ihr Fließgleichgewicht gerade im komplizierten Zusammenspiel auch interartlicher Vernichtungsprozesse finden, müßten dann ja grundlegend umgestaltet werden. Aus theologischer Perspektive hingegen läßt sich darauf aufmerksam machen, daß das endgültige Heil, also auch die endgültige Realisierung einer moralischen Ordnung der Wirklichkeit, erst eschatologisch zugesagt ist. Es durch menschliches Handeln allein und gewissermaßen vorzeitig herbeizwingen zu wollen, erscheint theologisch deshalb als Hybris. Ähnlich, wie der eschatologische Vorbehalt bezüglich der Gestaltung der menschlichen Gesellschaft den utopischen Visionen eines ´Reichs der Freiheit auf Erden´ (und so auch totalitären Wegen zu diesem) grundsätzlich entgegensteht, blockiert er die utopische Emphase in ökologischer Hinsicht. Bezüglich dieser gilt deshalb - wie zustimmend zu Altner hier festzustellen ist -, daß der "Kreaturfrieden" zu den eschatologischen Verheißungen gehört. Die Darstellung des Heils in dieser Welt kann und muß sich daher auf den Erhalt der Schöpfung und einen möglichst schonenden, biophilen Umgang des Menschen mit dieser beschränken.

 

47 Vgl. dazu auch: Pearce, D., Turner, R.: Economics of Natural Ressources and the Environment, New York 1990; Enquete-Kommission "Schutz des Menschen und der Umwelt": Die Industriegesellschaft gestalten, Bonn 1994; Umweltgutachten 1994, 45f (Tz. 11-13).

 

48 Vgl. Pearce/Turner, Economics 35ff; Enquete-Kommission, Industriegesellschaft 32; Umweltgutachten 1994, 45f (Tz. 11-13).

 

49 Korff, Wirtschaft 24.

 

 

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