Tilla von Gravenreuth

Ausstellung zum Spätwerk Tilla von Gravenreuths

Gezeichnete Lebenslinien - l'Esprit Moderne

 

2019 startete ein Projekt, bei dem Studierende der Kunstpädagogik praxisnah Berufserfahrung sammeln konnten. In einem Tandemprojekt erschlossen Studierende des Lehrstuhls für Kunstpädagogik, Regine Schurig und Ferdinand Babl, mit der Kuratorin Elisabetta Bresciani und der Dozentin Christiane Schmidt-Maiwald den zeichnerischen Nachlass von Tilla von Gravenreuth (1909-2000). Das Ergebnis der Recherche mündete in einen 2020 verlegten Katalog. Zusätzlich wurde im Anschluss ein Dokumentarfilm über die Genese des Katalogs von der Studentin Odile Langhammer realisiert. Nun kann vom 29. Juni bis 7. Juli 2022 auch die Ausstellung gezeigt werden. Das Team wurde für diese verstärkt von Julie Seyler, die das Layout der Ausstellung (Texte, Einladung, Plakate) konzipierte.

 

Die lebendig gesetzte Linie ist das charakteristische Merkmal des zeichnerischen Spätwerks von Tilla von Gravenreuth, die in den 1920er-Jahren in Stuttgart und in Berlin bei Oskar Schlemmer ihre künstlerische Ausbildung erfuhr und in den 1980er- und 90er-Jahren in Affing, in Bayerisch Schwaben, ein beachtliches Spätwerk schuf. Über eine Podiumsdiskussion soll am Abend der Ausstellung dieses Spätwerk kunsthistorisch verortet und die Rolle der Frau als Kunststudierende in den 1920-30 Jahren beleuchtet werden. Geladen sind der Leiter des H2 - Zentrum für Gegenwartskunst in Augsburg, Dr. Thomas Elsen, die akademische Oberrätin i.R., Frau Dr. Gertrud Roth-Bojadzhiev, der Verlagsleiter des Wißner-Verlags, Michael Moratti, sowie als Teil des Projektteams die Kunsthistorikerin und Kuratorin, Elisabetta Bresciani. Ganz besonders freut sich der Lehrstuhl für Kunstpädagogik über die Anwesenheit der Söhne Freiherr Rochus von Schauenburg und Freiherr Marian von Gravenreuth, deren großzügige Leihgabe das Projekt erst ermöglichte. Das Kooperationsprojekt erlaubte Studierenden in einmaliger Weise, die Prozessetappen einer Ausstellung: von der Konzeption, über die wissenschaftliche Recherche, das Führen von Interviews mit Zeitzeugen bis zur Gestaltung und Organisation von Katalog und Ausstellungsmaterialien, zu durchlaufen, aktiv zu partizipieren und so Berufspraxis zu erwerben. Die Ausstellung sucht auch diesen Prozess für Besucher_innen transparent zu machen.

 

Praxisorientierte Projektarbeiten stellen ein Herzstück in der Ausbildung von späteren Vermittler*innen im Kulturbereich dar, weil sie den größtmöglichen Einblick in berufliche Praxis erlauben, Einblick in komplexe Kommunikationsprozesse und wissenschaftliche Sacharbeit geben. Die kunstwissenschaftliche Aufarbeitung eines künstlerischen Nachlasses ist dann noch einmal eine ganz besondere Herausforderung: Über das Sichten der originalen Kunstwerke stellt sich eine unvergleichliche Nähe zu den Schaffenden ein, verdichtet über die Aussagen von interviewten Vertrauten und Modellen; erste stilistische Zuordnungen, inhaltliche Interpretamente stehen im Raum, gefolgt vom Prozess des Bündelns, um Werkgruppen zu definieren, des Forschens, um Einflüsse und Leitbilder zu bestimmen. Und dann geht der Prozess in die ausstellungsdidaktische Arbeit über, in der Katalog- und Ausstellungsstruktur entstehen mit Blick auf die räumlichen Gegebenheiten, die Ausstellungsbesucher*innen und den Anspruch einer Künstlerin aus einer anderen Zeit gerecht zu werden. Nicht zuletzt sind unzählige Detailentscheidungen zu treffen: zu Schrifttypen, Einbandfarben, Rahmungen, Begleitexten und zur Organisation – wie Fragen der Versicherung, des Transports, der Hängung, des Vermittlungsprogramms.

 

Ein Blick in das Leben einer Künstlerin

Ganz in der Nähe von Augsburg entsteht in Affing den 1980- und 90er-Jahren in aller Stille ein beachtliches Spätwerk. Tilla von Gravenreuth greift als 76-Jährige noch einmal den Faden ihrer Jugend auf, in der sie Zeichenunterricht bei dem Bauhauslehrer Oskar Schlemmer in Berlin in den späten 1920er-Jahren genommen hatte. In großer Dichte liegt die gezeichnete Auseinandersetzung Tilla von Gravenreuths mit dem menschlichen Körper vor: Sie lässt Modell stehen, fängt schnell verschiedenste Posen ein. Das Konvolut an Zeichnungen umfasst unterschiedlichste Untergründe und Zeichenmitteln. In zweierlei Hinsicht sind diese Zeichnungen gerade für Studierende des Faches Kunstpädagogik lehrreich: technisch-stilistisch, weil die Zeichnungen noch ganz geprägt von der Aufbruchszeit der 1920-30er Jahre sind, aber auch die 1980er-Jahre und das Aufleben des Expressionismus spiegeln – aber auch als historische Erfahrung. Die Kuratorin Elisabetta Bresciani erklärt: „Erst nach dem Tod des Ehemanns nimmt sie als Siebzigjährige das Zeichnen wieder auf, vor Ort im ländlichen Umfeld von Augsburg und damit abseits der pulsierenden Kunstzentren und abseits ihrer gesellschaftlichen Rolle als ‚Baronin‘. Unbeirrt knüpfte sie an die reformpädagogischen Ideale ihrer früheren Ausbildung an der Stuttgarter Akademie an und beschäftigte sich über Aktstudien mit der Rolle eines von gesellschaftlichen Zwängen befreiten Mensch-Seins.“

 

Ein Blick in den Katalog

Im Katalog Tilla von Gravenreuth. Gezeichnete Lebenslinien werden die besonderen Umstände, in denen das Spätwerk in aller Stille entstand, vor dem reformpädagogischen Hintergrund der Künstlerin beleuchtet (E. Bresciani) ebenso wie die stilistischen Einflüsse nah an den einzelnen Werken untersucht (C. Schmidt-Maiwald). Die gebildeten Werkgruppen: Vom Finden der Körperlinie, Ein Körper wird Paar, wird Trias, In guter Beg(K)leidung, Auf-den-Raum-Bezogen-Sein, Von Außen nach Innen sind von E. Schurig im Werkkatalog motivisch und stilistisch kommentiert.  In einem kurzen Exkurs wird schließlich der ikonografische Bezug von F. Babl herausgearbeitet. Das grafische, ganz auf die markante Linienführung der Künstlerin ausgerichtete Layout entwickelte R. Schurig.

 

Ein Blick in die geplante Ausstellung

Die ursprünglich bereits für das Sommersemester 2020 geplante Ausstellung wird nun erst vom 29.6.-7.7.22 im Gebäude für Kunst und Musik der Universität gezeigt werden können. F. Babl, der für die Ausstellungsorganisation verantwortlich zeichnet, erklärt: „Die mit zarter und teilweise nur angedeuteter Linie gefertigten Zeichnungen von Frauen, die mal modisch, mal androgyn in den unterschiedlichsten Posen gezeigt werden, geben Anlass, nach der Rolle der Frau und Künstlerin, früher wie heute, und dem entsprechend nach unterschiedlichen Frauenbildern zu fragen. Es geht also zum einen um das Thematisieren und Hinterfragen von Geschlechterrollen. Zum anderen ist es sicherlich auch für Kunstschaffende von motivierender Bedeutung das Spätwerk eines Menschen sehen zu können, der nach jahrzehntelanger Latenzphase im hohen Alter zur Kunstproduktion zurückfindet und in nur wenigen Jahren ein doch sehr umfangreiches Werk schafft.“  Das Layout von Begleittexten und Einladungen stimmte Julie Seyler auf die Papierarbeiten der Künstlerin und das Katalog-Layout ab.

 

Ein Blick in die didaktische Werkstatt

Im Rahmen der Vermittlung wird es am Vernissageabend eine Podiumsdiskussion geben, bei der aus unterschiedlichen Perspektiven der zeichnerische Anlass noch einmal diskutiert werden wird. Anwesend sind der Leiter des H2-Zentrums für Gegenwartskunst, Dr. Thomas Elsen, die akad. Obrrätin i.R., Dr. Roth-Bojadzhiev, der Verleger des Wißner-Verlages, Michael Moratti, die Söhne und Leihgeber, Rochus Freiherr von Schauenburg und Marian Freiherr von Gravenreuth sowie die Kuratorin Elisabetta Bresciani, die als ehemalige Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kunstpädagogik den Kontakt herstellte. Diese Gäste werden zusammen mit der Dozentin Dr. Schmidt-Maiwald sowie mit den Studierenden den Entstehungsprozess der Kooperation diskutieren; die Lehrstuhlinhaberin Frau Prof. Dr. Kirchner wird die Gesprächsrunde moderieren. Aber auch in der Ausstellung selbst sind bereits Vermittlungsmomente praktischer Natur mit angedacht, die u.a. in einem ausstellungsdidaktischen Seminar im WiSe 19-20 entwickelt und diskutiert worden waren. In zwei zusätzlich zur Disposition stehenden Vitrinen (Eingangsbereich der Ausstellung und Ende) werden Modelle zur Ausstellungsarchitektur gezeigt, die im Rahmen eines begleitenden Seminars zur Ausstellungskonzeption entstanden sind. Sie sollen den Studierenden und Interessierten eine Vorstellung davon geben, welche alternativen Möglichkeiten der Ausstellungskonzeption diskutiert wurden und darüber hinaus zu eigenen Ideen anregen.“ Das Seminar „Präsentieren“ (SoSe 2022) entwickelt zusätzlich Ausstellungskonzepte für 4 Vitrinen, um einen Blick hinter die Kulissen sowie einen Einblick in das Leben der Künstlerin anschaulich zu gewähren.

 

                                                                                        

 

„Eine mit den Brüchen der Moderne tief verwurzelte Künstlerin wie Tilla von Gravenreuth am Lehrstuhl für Kunstpädagogik der Universität Augsburg auszustellen, birgt die Chance Studierende darin zu bestärken, mutige, eigene Wege zu gehen um eine lebendige Persönlichkeit zu entfalten.“

Elisabetta Bresciani,

Kunsthistorikerin und freie Kuratorin

 

"Als eine besondere Erfahrung empfand ich die gemeinsame kunsthistorische Aufarbeitung und Einordnung der Künstlerin und ihres Spätwerkes im Projektteam – sowie die Freiheit diese Erkenntnisse in mein persönliches Gestaltungskonzept zu überführen."

Regine Schurig, Studentin des Bachelorstudiengangs Kunstpädagogik

 

„Mir hat beim Projekt vor allem gefallen, beim gesamten Aufarbeitungsprozess der Künstlerin – von der ersten Sichtung der Werke über das Schreiben eines Katalogbeitrages bis letztlich hin zur kuratorischen Arbeit – dabeigewesen sein zu können.“

                                                      Ferdinand Babl, Student des Bachelorstudiengangs Kunstpädagogik

 

Die Begegnung mit der eigenwilligen Formensprache einer Künstlerin, die in den 1980er-Jahren anknüpft an ihre Lehrjahre der 1920er-Jahre, eröffnet unerwartete Perspektiven für einen lebendigen Kunstdiskurs, in dem Studierende und Dozierende am Lehrstuhl für Kunstpädagogik stetig stehen.

Christiane Schmidt-Maiwald, kunstpädagogische Leiterin

 

Katalog:

Tilla von Gravenreuth. Gezeichnete Lebenslinien 

Hg. Elisabetta Bresciani, Christiane Schmidt-Maiwald 

60 Seiten, Hardcover

Format 21,0 x 21,0 cm

1. Auflage 2020

Wißner-Verlag Augsburg 

ISBN 978-3-95786-253-2

 

 

Elisabetta Bresciani, Mag. Art., Kunsthistorikerin, Jg. 1968

Die deutsch-italienische Kunsthistorikerin stammt aus Brescia, lebt
heute in München und am Gardasee. Sie betreute als Kuratorin zahlreiche
Ausstellungen zur Europäischen Kulturgeschichte in Wien, Venedig und
London und war als Dozentin an verschiedenen Universitäten tätig. Seit
2015 verantwortet sie kuratorisch den künstlerischen Nachlass von Tilla
von Gravenreuth.

Mittwoch, 29. Juni 2022, 18 Uhr

Vernissage, Filmvorführung und Podiumsdiskussion

Laufzeit 29.06 bis 07.07.2022

 

Die Ausstellung Tilla von Gravenreuth - gezeichnete Lebenslinien kann am Wochenende nicht besichtigt werden, da das Universitätsgebäude geschlossen ist. Ab Montag, den 04. Juli bis Donnerstag, den 07. Juli, geht eine Besichtigung aus versicherungstechnischen Gründen nur nach nach vorheriger Anmeldung am Lehrstuhl.

 

 

 

Ausstellung zum Spätwerk Tilla von Gravenreuths Gezeichnete Lebenslinien - l'Esprit Moderne Brigitte Karch
Ausstellung zum Spätwerk Tilla von Gravenreuths Gezeichnete Lebenslinien - l'Esprit Moderne Brigitte Karch
Ausstellung zum Spätwerk Tilla von Gravenreuths Gezeichnete Lebenslinien - l'Esprit Moderne Brigitte Karch
Ausstellungsteam Odile Langhammer, Julie Seyler, Regine Schurig, Ferdinand Babl, Christiane Schmidt-Maiwald Brigitte Karch
Rochus v. Schauenburg, Prof. Dr. Constanze Kirchner, Dr. Christiane Schmidt-Maiwald, Marius v. Gravenreuth Brigitte Karch
Vernissage Brigitte Karch
Podiumsdiskussion Brigitte Karch
Podiumsdisskussion Dr. Christiane Schmidt-Maiwald, Dr. Gertrud Roth-Bojadzhiev, Dr. Thomas Elsen, Michael Moratti, Prof. Dr. Constanze Kirchner - Brigitte Karch

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