Die Cognitive-Load-Theorie

In der vergangenen Woche hatten einige Schüler(innen) wie Marla Schwierigkeiten, dem Englischunterricht von Herrn Singer zu folgen. Wie sollte sein Unterricht gestaltet sein, damit sich dies nicht wiederholt?

 

Die Theorie der kognitiven Belastung (Cognitive Load Theory; Sweller, 1999) bezieht sich allgemein auf das Lernen und Problemlösen. Der Theorie zufolge können im Arbeitsgedächtnis während des Lernens drei verschiedene Formen kognitiver Belastung (“cognitive load”) auftreten, die zusammengenommen das Verständnis der Lerninhalte und den Lernerfolg beeinflussen. Dabei handelt es sich um (a) inhaltsbedingte (“intrinsic load”), (b) sachfremde (“extraneous load”) und (c) lernrelevante (“germane load”) kognitive Belastung.

 

Die inhaltsbedingte kognitive Belastung (“intrinsic load”) bezeichnet denjenigen Anteil der kognitiven Belastung, der sich aus der Komplexität und der Schwierigkeit des Lerninhalts ergibt. Als wie leicht oder schwierig ein zu lernender Inhalt empfunden wird, hängt von zwei Aspekten ab: dem Vorwissen der Lernenden sowie der Elementinteraktivität. Vorwissen meint die Verfügbarkeit lernrelevanter Schemata zur Enkodierung des Inhalts. Wenn Marla also in der Unterrichtsstunde von Herrn Singer in einer Aufgabe bestimmte Grammatikregeln anwenden soll, die sie bereits in der Unterrichtsstunde zuvor erlernt hat, führt dies zu einer geringeren inhaltsbedingten kognitiven Belastung als wenn sie diese zuvor nicht erlernt hätte. Elementinteraktivität bezieht sich darauf, wie viele Wissensinhalte (Elemente) gleichzeitig im Arbeitsgedächtnis aktiv gehalten und verarbeitet werden müssen, um den Lerninhalt zu verstehen bzw. zu lernen. Entsprechend würde ihr „Pauken“ von Vokabellisten keine sonderlich hohe inhaltsbedingte kognitive Belastung verursachen, da die Vokabeln einzeln hintereinander gelernt werden können. Lernt sie hingegen Grammatikregeln, dann ist die inhaltsbedingte kognitive Belastung deutlich höher, da hier verschiedene zu verstehende Elemente (z.B. spezifische Wortkombinationen) zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen.   

       

Die sachfremde kognitive Belastung (“extraneous load”) bezieht sich auf denjenigen Anteil der kognitiven Belastung, der durch die Verarbeitung von Informationen aus dem Lernmaterial bzw. der Lernumgebung verursacht wird, der aber nicht in direktem Zusammenhang mit Wissenskonstruktionsprozessen steht bzw. diese sogar stören kann. Solche sachfremden Belastungen können bei Marla entstehen, wenn Herr Singer in seinem Unterricht ablenkende Aspekte wie z.B. sachfremde Illustrationen nutzt, die mit dem eigentlichen Lerninhalt nichts zu tun haben, oder er Informationen, die miteinander verknüpft werden müssen, getrennt voneinander präsentiert. Diese durch sachfremde kognitive Prozesse belegte Kapazität steht dann nicht für Wissenskonstruktionsprozesse zur Verfügung, die für das Verständnis der Inhalte relevant sind. 

 

Die lernrelevante kognitive Belastung (“germane load”) bezeichnet denjenigen Anteil der kognitiven Belastung, der durch das eigentliche verstehende und sinnentnehmende Lernen verursacht wird. Diese Belastung resultiert aus einem Engagement in lernförderlichen kognitiven Prozessen. Dies wäre der Fall, wenn Marla sich nur auf die von ihr unterstrichenen Passagen in ihrem Englischbuch beim Lernen fokussiert („Auswählen”), sich für neue Wörter Eselsbrücken zu bereits bekannten Wörtern bildet („Elaborieren“) oder darüber nachdenkt, inwiefern unterschiedliche Wörter den unregelmäßigen Verben zugeordnet werden können („Organisieren“).

Abbildung 1: Die drei Formen der kognitiven Belastung. © Universität Augsburg

Nach der Theorie der kognitiven Belastung wirken die drei Formen kognitiver Belastung additiv, d. h., sie summieren sich zu einer Gesamtbelastung auf, welche das Arbeitsgedächtnis beim Lernen zu einem jeweils gegebenen Zeitpunkt beansprucht (siehe Abbildung 1). Übersteigt diese Gesamtbelastung die vorhandene Kapazität des Arbeitsgedächtnisses, tritt kognitive Überlastung (“cognitive overload”) ein, und Lernen ist dann weniger effektiv. Marla könnte also Schwierigkeiten haben, eine komplexe Grammatikregel zu erlernen (hohe Elementinteraktivität), bei welcher sich die Beispiele im Buch auf einer anderen Seite befinden als die Regel (getrennte Darstellung, die unnötige visuelle Suchprozesse auslöst).

 

Um die nachteilige Wirkung der sachfremden kognitiven Belastung bei hoher inhaltsbedingter Belastung für den Lernerfolg zu überprüfen, führten Sweller und Chandler (1996) eine Studie mit 30 Auszubildenden durch, die ein Computerprogramm erlernten. Sie wurden zufällig einer von drei Interventionsbedingungen zugewiesen. In der ersten Bedingung erhielten die Auszubildenden einen Computer und ein Manual, mithilfe dessen sie Befehle am Computer umsetzen sollten. Sie mussten ihre Aufmerksamkeit zwischen den Befehlen des Manuals, dem Computerbildschirm und der Tastatur teilen. In der zweiten Bedingung erhielten die Auszubildenden ebenfalls einen Computer und ein Manual. Allerdings enthielt dieses Abbildungen des Bildschirms und der Tastatur, in denen die Befehle direkt eingezeichnet waren. Der Computer war hier redundant, um die Informationen zu verstehen. In der dritten Bedingung erhielten die Auszubildenden keinen Computer, sondern nur das Manual mit den Abbildungen. Hier lag keine Redundanz vor und die Aufmerksamkeit musste nicht geteilt werden. Anschließend lösten die Gruppen Aufgaben mit niedriger oder hoher inhaltsbedingter Belastung, um ihren Wissenserwerb zu testen. Es zeigte sich, dass bei Aufgaben mit niedriger inhaltsbedingter Belastung keine Unterschiede zwischen den Bedingungen festzustellen waren. Bei Aufgaben mit hoher inhaltsbedingter Belastung war jedoch die Gruppe, die nur das Manual mit den Abbildungen erhielt, den anderen beiden Gruppen überlegen. 

 

Herr Singer sollte folglich die beeinflussbare sachfremde Belastung möglichst gering halten, indem er auf nicht lernrelevante Materialien (z.B. ablenkende Bilder, Musik, Videos) verzichtet und Materialien so gestaltet, dass relevante Informationen eng beieinander präsentiert werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine hohe Elementinteraktivität (z.B. Grammatikregeln) vorliegt oder Schüler(innen) wenig Vorwissen über den Lerninhalt besitzen.

 

Das ICAP-Modell

Die Lehrerin Frau Plank plant die kommende Unterrichtseinheit in Biologie für ihre Klasse. Sie hatte das Gefühl, dass Max in der vergangenen Stunde Schwierigkeiten hatte, die Mendelschen Regeln zu verstehen. Was kann sie tun, damit Max den neuen Stoff langfristig behalten kann?

 

Kognitive Prozesse sind für Außenstehende unsichtbar. Eine Lehrkraft kann somit nicht „sehen“, ob ihre Schüler(innen) gerade neues Wissen konstruieren (d.h. neue Schemata konstruieren oder vorhandene Schemata modifizieren) oder ob sie z.B. gerade über sachfremde Dinge nachdenken. Chi und Wylie (2014) argumentieren allerdings, dass unterschiedliche sichtbare Lernaktivitäten mit einem lernerseitigen Engagement in unterschiedlich hochwertigen kognitiven Prozessen mehr oder weniger stark zusammenhängen. Hierzu haben sie das sogenannte „ICAP“-Modell entwickelt, das zwischen passiven („passive“), aktiven („active“), konstruktiven („constructive“) und interaktiven („interactive“) Lernaktivitäten unterscheidet.

 

(Äußerlich) Passiv sind Lernende etwa dann, wenn sie keine sichtbare Lernaktivität zeigen. Ein Beispiel hierfür ist, wenn Max dem Vortrag von Frau Plank zum Thema Vererbung beim Menschen zuhört oder einen Text über Vererbung beim Menschen liest. Aktiv sind Lernende, wenn sie körperlich sichtbare Aktivitäten ausführen, die jedoch nicht über ein Reproduzieren oder Hervorheben von Lerninhalten hinausgehen. Hierunter fällt, wenn Max sich während Frau Planks Vortrag zur Vererbung Notizen macht oder im Text Unterstreichungen vornimmt. Konstruktive Lernaktivitäten liegen vor, wenn die Lernenden Inhalte erstellen, die über die durch die Lehrkraft zur Verfügung gestellten Informationen hinausgehen. Dies wäre der Fall, wenn Max sich zu den Inhalten des Vortrags eine Mindmap erstellt oder eine Zusammenfassung des Texts anfertigt. Interaktive Aktivitäten wiederum bezeichnen sichtbare Handlungen, bei denen Lernende gemeinsam Lerninhalte erstellen (siehe konstruktive Lernaktivitäten) und dabei auf Beiträge anderer Lernender Bezug nehmen. Dies ist der Fall, wenn Max und seine Mitschülerin Sarah sich gegenseitig Feedback auf ihre erstellten Mindmaps geben oder gemeinsam ein Erklärvideo entwickeln.

 

Chi und Wylie (2014) nehmen nun an, dass diese unterschiedlichen sichtbaren Lernaktivitäten es unterschiedlich wahrscheinlich machen, dass während ihrer Ausführung hochwertige kognitive Prozesse ablaufen. Je hochwertiger die kognitiven Prozesse, desto höher ist auch der Wissenserwerb (siehe Abbildung 1). In Phasen, in denen Lernende passiv sind, findet oftmals nur die isolierte Speicherung von Information statt. Max könnte also Informationen zur Vererbung von Merkmalen, die er bei Frau Planks Vortrag aufgenommen hat, nur wiedergeben. Dahingegen werden in aktiven Lernphasen häufig neue Informationen mit dem Vorwissen verknüpft. Max könnte also beim Unterstreichen eines Texts Zusammenhänge zwischen den Textinformationen zur menschlichen Vererbung und Vorwissen über die Vererbung bei Pflanzen herstellen. Mit einem Engagement in konstruktiven Lernaktivitäten gehen üblicherweise kognitive Prozesse einher, bei welchen im Langzeitgedächtnis des Lernenden vorhandene Schemata restrukturiert werden. Max könnte durch die Erstellung der Mindmap feststellen, dass für die Erforschung der Vererbung bei Pflanzen und Menschen andere Methoden angewendet werden müssen. Engagieren sich Lernende in interaktiven Aktivitäten, werden potenziell die hochwertigsten kognitiven Prozesse ausgelöst, bei denen aufgrund des Inputs einer/s Mitlernenden zusätzliche weitere Informationen gemeinsam erschlossen werden. Max und Sarah könnten sich durch die gemeinsame, diskursive Erstellung eines Erklärvideos erschließen, welche Rolle die Mendelschen Gesetze für die aktuelle Genforschung haben.

Abbildung 1: Sichtbare ICAP-Lernaktivitäten und angenommene kognitive Prozesse. © Universität Augsburg

Wichtig ist jedoch, dass die gerade beschriebenen Zusammenhänge nur dann angenommen werden, wenn die sichtbaren Lernaktivitäten der Lernenden sich auf zu lernende Inhalte und nicht auf Inhaltsfremdes beziehen. 

 

Um die ICAP-Hypothese empirisch zu bestätigen, führten Menekse, Stump, Krause und Chi (2013) eine experimentelle Studie mit 120 Studierenden des Ingenieurwesens durch. Nach einem Vortest, in welchem das Vorwissen der Studierenden getestet wurde, wurden diese zufällig einer von vier Interventionsbedingungen zugewiesen. In der passiven Bedingung lasen die Studierenden einen Text und durften währenddessen keine weiteren Hilfsmittel wie Stifte nutzen. In der aktiven Bedingung lasen die Studierenden den gleichen Text wie in der passiven Bedingung. Jedoch sollten sie im Text die wichtigsten Sätze mit Markern unterstreichen. In der konstruktiven Bedingung bearbeiteten die Studierenden ein Aufgabenblatt, in welchem sie Grafiken und Abbildungen, die auf dem Text basieren, schriftlich interpretieren sollten. In der interaktiven Bedingung wurden die Studierenden gebeten, das gleiche Aufgabenblatt auszufüllen, allerdings kooperativ. Der Wissenserwerb wurde anschließend mit einem Nachtest gemessen. Es zeigte sich, dass die Studierenden der aktiven Bedingung einen signifikant höheren Wissenszuwachs zwischen Vor- und Nachtest aufwiesen als die der passiven Bedingung. Die Studierenden der konstruktiven Bedingung wiederum erwarben signifikant mehr Wissen als die Studierenden der aktiven Bedingung. Und die Studierenden der interaktiven Bedingung zeigten einen signifikant größeren Wissenszuwachs als die der konstruktiven Bedingung. Entsprechend konnte die ICAP-Hypothese bestätigt werden.

 

Für Frau Plank heißt dies also: Wenn sie es schafft, Max auf sichtbarer Ebene zu einem Engagement in eher konstruktiven (z.B. eine Mindmap gestalten) und interaktiven Aktivitäten (z.B. eine Mindmap gemeinsam mit Sarah gestalten) zu bewegen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass er neues Wissen erwirbt, in höherem Maße als wenn Max lediglich passiv (z.B. zuhören) oder aktiv (z.B. mitschreiben) ist.

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