Wie wir leben wollen

Die Professorin für Moraltheologie Kerstin Schlögl-Flierl im Gespräch über ihr Ehrenamt im Deutschen Ethikrat

Wenn gesellschaftliche Fragen heikel werden, ethische Dilemmata die Fraktionen spalten und Juristen Neuland betreten, kommt der Deutsche Ethikrat ins Spiel. Er bietet ethisch-moralische Orientierung, Denkanstöße zur Meinungsfindung und ordnet Themen ein. Kerstin Schlögl-Flierl, Professorin an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg, ist seit Mai 2020 Mitglied dieses Sachverständigenrates.

Was macht der Ethikrat?

Wir sind ein unabhängiger. Sachverständigenrat, der sich um die großen Themen unserer Zeit kümmert: gesellschaftliche Themen, rechtliche Themen, lebenswissenschaftliche Themen -  so steht es im Ethikratgesetz. Wir nehmen uns dieser Themen an, ordnen sie ein und sprechen Empfehlungen dazu aus. Das sind zum Beispiel Themen wie Mensch-Maschine-Interaktion, Reproduktionsmedizin, momentan auch normative Fragen in der Pandemie.
Unser Ziel ist, Orientierung zu geben. Unsere Stellungnahmen sind keine Konsenspapiere, uns geht es darum unterschiedliche Positionen und die jeweilige Argumentationslinie so darzustellen, dass alle Menschen, sie nachvollziehen können.

© Universität Augsburg

Wir sind 24 Mitglieder. Der Rat versucht, die Vielfalt der Gesellschaft bestmöglich abzubilden. So wurden neben vielen Ethiker:innen und Expert:innen aus Naturwissenschaften, Medizin und Rechtswissenschaft auch eine evangelische Bischöfin, eine evangelische Theologin, eine Islamtheologin und der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland sowie Verbändevertreter. Die in der unserer Gesellschaft vorhandene Pluralität an Meinungen und Positionen wird versucht, im Ethikrat abzubilden. Ganz neu ist mit Armin Grunwald ein Physiker und Philosoph im Ethikrat.

Woher kommen die Themen und Fragen?

Es sind oft die großen Fragen unserer Zeit, die so komplex oder so berührend sind, dass es keine leichten Antworten gibt. Häufig wirft der wissenschaftliche oder technische Fortschritt Fragen auf, die rechtlich noch ungelöst sind. Ist der Hirntod der Todeszeitpunkt des Menschen? Soll es eine Impfpflicht geben? Dürfen im Namen der Forschung Mensch-Tier-Mischwesen kreiert werden?

Viele Themen kommen aus unserer Mitte. Zu Beginn einer vierjährigen Amtszeit setzen wir uns eine Agenda. Wir suchen Themen aus, mit denen wir uns im Rahmen von Veranstaltungen oder Stellungnahmen beschäftigen möchten. Aktuell sind es Suizidbeihilfe, Ernährungsverantwortung und das Mensch-Maschine-Verhältnis. Zu Letzterem wurden wir von der Regierung gebeten, uns damit zu beschäftigen.

Themen wie die normativen Fragen rund um die Pandemie ergeben sich freilich tagesaktuell. Unsere Arbeitsgruppe „Pandemie“ beschäftigt sich gerade mit der Frage, ob für Geimpfte besondere Regeln gelten sollen.

Wie arbeitet der Ethikrat?

Wir diskutieren ganz viel. Wir treffen uns einmal monatlich in der Plenarsitzung, um Themen zu besprechen, teilweise in öffentlichen Anhörungen, die die Bevölkerung per Livestream verfolgen kann. Es gibt Arbeitsgruppen und Unter-Arbeitsgruppen. Ganz wichtig: wir schreiben unsere Texte selbst. Jedes Wort und jeder Satz wird dreimal umgedreht, denn wir versuchen eine Sprache zu finden, die für alle lesbar und nachvollziehbar ist – keine  Experten- oder Wissenschaftssprache, sondern eine verständliche Alltagssprache, um Orientierung zu schaffen.

Uns geht es in erster Linie darum, die verschiedenen Blickwinkel auf ein Thema aufzuzeigen. Wir stellen mögliche Perspektiven auf eine Frage dar, zeigen Hintergründe, Argumentationswege und die dahinterliegenden Prinzipien. Damit kann man sich seine eigene Meinung bilden, sich aber auch daran reiben. Deswegen gibt es bei uns auch Sondervoten. Wenn ein Mitglied zu einem Thema eine abweichende Position hat, kann es dieses Votum abgeben. In der Stellungnahme oder der Empfehlung wird dies dann abgedruckt und kann von der Allgemeinheit nachvollzogen werden.

Was nehmen Sie aus der Ratstätigkeit mit, was bringen Sie ein?

Ich wurde in den Rat berufen aufgrund meiner ethischen und theologisch-ethischen Kompetenz, ich habe viel zu bioethischen Fragen geforscht und arbeite momentan in einem großen, vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Forschungsprojekt zum Thema „Selbstbestimmtes Leben im Pflegeheim“.

Was ich mitnehme ist eine unglaubliche Vielfalt an Diskussionen und spannenden Themen und das Gefühl, am Puls der Zeit zu sein. Zu aktuellen Themen, die Menschen bewegen, reflektiert und für alle nachgedacht zu haben, Prinzipien eingebracht zu haben, das nehme ich mit.

Das ist für mich persönlich nicht nur unglaublich spannend, es bereichert auch meine universitäre Arbeit. Meine Blickwinkel werden vielfältiger.

Welches Thema ist derzeit aktuell?

Das, was derzeit am stärksten nachgefragt wird – sowohl von der Bevölkerung als auch von der Presse – ist tatsächlich das Impfen.  Im Fokus der Öffentlichkeit steht natürlich die Fragen nach Impfgerechtigkeit. Hier haben wir im Ethikrat schon sehr früh, im November 2020, gemeinsam mit Ständigen Impfkommission und der Nationalen Akadmie der Wissenschaften Leopoldina, eine Empfehlung verabschiedet. Nach dieser wird der Impfstoff nicht nach utilitaristischen Gesichtspunkten, sondern nach Bedarf und nach bedürfnisorientierten Gesichtspunkten verteilt. Wir haben z.B. schon von Anfang an auch junge Menschen mit Vorerkrankungen ganz weit oben platziert in dieser Impfpriorisierung – was dann leider so nicht umgesetzt wurde.

Unsere Wissenschaftlerin

Lehrstuhlinhaberin
Moraltheologie
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