„Imaginationen von Antike“

 

Tag der EKG 2017 © Universität Augsburg

 

Tagungsbericht:

Am 17. Juli 2017 fand zum zweiten Mal der vom IEK ausgerichtete „Tag der Europäischen Kulturgeschichte“ statt. Er befasste sich in diesem Jahr mit dem Thema „Imaginationen von Antike“.

Verweise und Rekurse auf die Antike waren und sind ein ubiquitäres Phänomen, das in ganz unterschiedlichen Aneignungszusammenhängen und zu ganz unterschiedlichen Zeiten Teil der europäischen Kultur ist. Antike wurde in Kunst, Literatur und Rhetorik nachgeahmt oder als Argument in politische, philosophische und theologische Debatten eingebracht. Der Rekurs auf eine autoritative Vergangenheit war allgemein akzeptiert, konnte in seiner inhaltlichen Füllung aber durchaus umstritten sein. Dabei war Antike nie eine objektive Gegebenheit, sondern wurde in der Aneignung immer wieder neu imaginiert und konstruiert. Eben diesem Phänomen widmete sich dieser Tag der Europäischen Kulturgeschichte, indem er exemplarisch Formen der Imagination von Antike thematisierte und Möglichkeiten ihrer Erforschung aufzeigte.

Der erste Teil der Veranstaltung fand in Ausstellungshalle und Vortragsraum der Zentralbibliothek der Universitätsbibliothek Augsburg statt. Hier gaben Wissenschaftler der Universität Augsburg Einblicke in ihre Forschungen zu Antikenrekursen. Zu Beginn begrüßte Prof. Dr. Bernd Oberdorfer, geschäftsführender Direktor des IEK, die Anwesenden. Er wies darauf hin, dass, nachdem im vorherigen Jahr Konstruktionen von Himmel behandelt worden seien, nun mit Imaginationen der Antike erneut ein Thema im Zentrum des Interesses stehe, das für die europäische Kulturgeschichte von fundamentaler Bedeutung sei. Er bedankte sich bei der Universitätsbibliothek Augsburg für die Zusammenarbeit, deren Räume nicht nur erneut als Austragungsort genutzt werden durften, sondern deren Mitarbeiter auch wieder extra für diese Veranstaltung eine Ausstellung einschlägiger Drucke aus den Altbeständen der Bibliothek eingerichtet hatten.

Die Bedeutung der Bestände der Universitätsbibliothek für die historische Forschung hob auch Herr Dr. Gerhard Stumpf, stellvertretender Leiter der Bibliothek, in seinem anschließenden Grußwort hervor. Er betonte die zentrale Rolle von Bibliotheken für die Bewahrung und Vermittlung von Wissen, und verwies auf die Herausforderungen und Fragen, mit denen Bibliotheken als langfristige Wissensspeicher im Zeitalter der Digitalisierung im Hinblick auf die daraus erwachsenden Chancen und Problemen konfrontiert sind.

Der erste wissenschaftliche Vortrag des Tages wurde von Prof. Dr. Gregor Weber gehalten. Er setzte sich anhand des Einflusses des Traumbuches des Artemidor von Daldis (2. Jahrhundert n. Chr.) auf das Werk des belgischen Malers René Magritte (1898–1967) mit der Frage nach der Wirkung der antiken Traumlehre auf die moderne Kunst auseinander. Magritte verfügte über breite Antikenkenntnis, die er in seinen Briefen und Schriften intensiv demonstrierte. Auch den Traum behandelte er nicht nur in mehreren seiner Malereien, sondern auch in seinen Schriften, in denen sich ein interessantes Spannungsverhältnis des Malers zu diesem von ihm intensiv und facettenreich behandelten Thema offenbart. Seiner Meinung nach war es Aufgabe der Kunst, das Mysterium der Welt zu evozieren. Dabei sei seine Malerei jedoch das Gegenteil von Traum, und nur im Wachsein und im Zustand der Klarheit könne er arbeiten und Kunst schaffen. Zwar nahm Magritte nicht explizit Bezug auf Artemidor, doch erkennt Weber deutliche Hinweise eines Einflusses der antiken Traumlehre auf sein Werk. Auch das Unbewusste und die Psychoanalyse diskutierte Magritte in seinen Schriften, wobei er diesen Konzepten jedoch skeptisch gegenüberstand.

Frau Prof. Dr. Rebecca Müller setzte sich in ihrem Vortrag mit Antikenrezeptionen in der karolingischen Goldschmiedekunst auseinander. In einem komplexen Rezeptionsprozess wurden antike Bildformeln zum Bestandteil des mittelalterlichen Formen- und Darstellungsrepertoires, wobei sowohl die pagane als auch die frühchristliche Bildtradition als Ressource genutzt wurde. Anhand mehrerer Beispiele illustrierte Müller die Wiederaufnahme antiker Darstellungsformen und deren Übertragung in einen veränderten Kontext. Als ein beliebtes Motiv hebt sie den auf dem Pferd reitenden Imperator hervor, eine antike Bildformel, die im Mittelalter für die Darstellung christlicher Herrscher verwendet wurde. Durch die Nutzung dieser Bildformel stellten sich die karolinigischen Könige in die Tradition der antiken Imperatoren, insbesondere des christlichen Kaisers Konstantin, von dem entsprechende Darstellungen existierten und bekannt gewesen sein dürften. 

Der Vortrag von Frau Prof. Dr. Eva Matthes befasste sich mit dem Streit zwischen Philanthropinisten und Neuhumanisten um den Stellenwert der Antike, besonders der alten Sprachen, in der Bildung.  Dieser Diskurs prägte nicht nur entscheidend die Antikenrezeption im 18. und 19. Jahrhundert, sondern definierte auch zwei entgegengesetzte Positionen, die bis in die Bildungsdiskussion der heutigen Zeit nachwirken: Die Philanthropinisten sahen die antiken Schriftsteller und den Umgang mit den alten Sprachen als wenig nützlich an. Denn die Funktion der Bildung, so ihre Ansicht, bestünde in der Erziehung des Menschen zu einem nützlichen Teil der Gesellschaft. Mittels der durch die Erfüllung einer entsprechenden Funktion erfahrenen Bestätigung könne der Mensch zur Glückseligkeit gelangen. Daher sei die Aneignung lebenspraktisch orientierter Inhalte wie moderne Sprachen oder Naturwissenschaften wichtiger als die hier als wenig anwendbar angesehenen alten Sprachen. Die Neuhumanisten lehnten dieses ihrer Ansicht nach nicht ganzheitliche, sondern allein auf Erwerbsbildung ausgelegte Verständnis ab und stellten ihm ein Erziehungskonzept entgegen, dessen Menschenbild und Bildungsverständnis maßgeblich von der antiken Philosophie geprägt war. Dieses Konzept propagierte ein neues Verständnis der klassischen Philologie als umfassender, auf den Menschen in seiner Gesamtheit und die Veredelung seines Charakters ausgerichteten Bildungslehre, basierend auf einem vornehmlich die griechische Antike fokussierenden und überhöhenden Bild, das besonders Ideale wie Freiheit, Ganzheitlichkeit und Schönheit als Kernpunkte der griechischen Philosophie, Ästhetik und Bildung hervorhob.

Herr PD Dr. Ulrich Niggemann stellte in seinem Vortrag konzeptionelle Überlegungen zu Aufgaben, Möglichkeiten und Herausforderungen einer Erforschung von Antikenrekursen vor. Als grundlegend hob er hervor, dass es sich bei dem in unterschiedlichen Kontexten als „Antike“ Bezeichneten nie um die „Antike an sich“ handelt, sondern immer um ein normativ aufgeladenes Konstrukt, das im jeweiligen kulturellen Kontext erst geschaffen wird. Diese Auseinandersetzungen mit und Konstruktionen von Antike sind stets geprägt von konkurrierenden Aneignungen und Deutungskämpfen, durch widerstreitende Rezeptionen und je nach Kontext unterschiedlichem Umgang mit antiken Zeugnissen. Gegenüber der älteren Forschung sollten hier stärker die Techniken und Verfahren, mit denen mit Antike umgegangen und mittels denen sie stetig neu konfiguriert wird, in den Blick gerückt werden. Ebenso seien Aspekte der Inszenierung und Performativität von Antikenrekursen einzubeziehen, sowie die Frage, welche Bedeutungen und kommunikative Funktionen Rückgriffe auf Antikes in unterschiedlichen Kontexten haben konnten.

Im Anschluss führte Herr Dr. Peter Stoll die Anwesenden in die eigens für den Tag der Europäischen Kulturgeschichte eingerichtete Ausstellung. Sie zeigte einschlägige Drucke des 16. bis 18. Jahrhunderts. Gezeigt wurden Ausgaben antiker Dichter, Dramatiker, Philosophen und Historiker sowie reich bebilderte antiquarische, archäologische und architektonische Werke mit Darstellungen antiker Bauten, Säulen und Ruinen. Die Ausstellung gab einen Einblick in die reichen Quellenbestände, die die Sammlungen der Universitätsbibliothek Augsburg auch zu diesem Thema bereithalten.  

Der Abendvortrag fand in der Stadtbücherei Augsburg statt. Herr Prof. Dr. Bernd Roeck von der Universität Zürich befasste sich mit der Frage, inwieweit in der Renaissance die Auseinandersetzung mit der heidnischen griechisch-römischen Antike von christlichen Wertesystemen ablenken sowie einer Weltlichkeit Bahn brechen und damit aus religiöser Perspektive zur Gefahr werden konnte. Zwar war Antikenrezeption im spätmittelalterlichen Europa größtenteils christlich geprägt, doch ereigneten sich neben auf breiter Basis akzeptierter und für die christliche Lehre als unproblematisch empfundener Anverwandlung an den Rändern auch stets Grenzkämpfe zwischen Frommen und Antikenfreunden. Die Auseinandersetzungen drehten sich etwa um Darstellungen antiker Gottheiten im öffentlichen Raum, worin Kritiker die Verehrung heidnischer Götzen sahen, während Befürworter deren religiösen Gehalt marginalisierten und allein deren Schönheit hervorhoben. Ein anderer Streitgegenstand waren etwa an antiker Ästhetik orientierte Kirchenmalereien, die ob der Darstellung nackter, von manchen gar als lasziv wahrgenommener Körper als unangemessen gesehen wurden. Da gerade im stark religiös geprägten 16. Jahrhundert der Umgang mit Antike immer wieder religiöse Kritik provozierte, mussten neue Wege der Anverwandlung gefunden werden. Zugleich leisteten die Antikenrezeption und die damit verbundenen Grenzkämpfe einen entscheidenden Beitrag zur Herausbildung der Vorstellung von der Ästhetik eines Objekts als Eigenwert, und damit zu einem bedeutenden Schritt zur Säkularisierung des traditionell dem religiösen Kult verhafteten Kunstwerks.

Die Schlaglichter, die die Vorträge auf Imaginationen von Antike in verschiedenen kulturellen und zeitlichen Kontexten warfen, zeigten nicht nur eindrucksvoll die Allgegenwart von Antikenrekursen in der europäischen Kultur, sondern auch die fundamentale Bedeutung des Umgangs und der Auseinandersetzung mit der Antike sowie deren Konstruktion, Transformation und Anverwandlung, sowie auch des Diskurses und die Konflikte um den Umgang mit Antike für die Genese der europäischen Kultur der Neuzeit. Angesichts dessen erscheint deren weitere Erforschung geboten. Die Beiträge zum Tag der Europäischen Kulturgeschichte enthielten hierzu vielversprechende Impulse.

 

Benjamin Durst

 

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