Call for Papers

Écrire la danse et danser l'écrit
Schriftsteller, Tänzer und Choreographen zwischen den Künsten

 

„Commencer de dire des vers, c’est entrer dans une danse verbale.” (Valéry 1936: 11) schreibt Paul Valéry in seinem berühmten Essai Philosophie de la danse. Wie zahlreiche andere Autoren verwendet Valéry die Idee des Tanzens als Metapher der Poesie und an mancher Stelle auch als abstrakte Allegorie der menschlichen Gedankenwelt. Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts vervielfachen sich die reflektorischen Auseinandersetzungen mit dem Tanzen bei den namhaften Autoren, wie beispielsweise Charles Baudelaire oder Stéphane Mallarmé. Dabei werfen sie eine Problematik auf, die gleichermaßen faszinierend und herausfordernd ist: wie kann das Tanzen in der Literatur – allen Unterschieden, ja sogar aller Gegensätzlichkeit dieser beiden Ausdrucksformen zum Trotz – in Worte gefasst werden? Diese Fragestellung rückt gerade in jenem Moment ins Bewusstsein, als sich der Tanz zusehends von der Sprache zu emanzipieren beginnt, ein Prozess, den Jacques Rancière als ein bemerkenswertes Charakteristikum seines ästhetischen Paradigmas bezeichnet (vgl. Rancière 2011: 15). So kann von einem Wendepunkt gesprochen werden, der zwei große Epochen des Tanzes voneinander unterscheidet. Zum einen ist der künstlerische Tanz[1] in der Epoche des höfischen Balletts im 16. und 17. Jahrhundert sehr stark der Verschriftlichung unterworfen, einem Handlungsstrang in Form eines literarischen Textes, welcher anschließend zur Aufführung auf die Bühne gebracht wird (vgl. Bührle 2014: 17). Zum anderen beginnt im 19. Jahrhundert für das Tanzen eine Zeit der Emanzipation vom geschriebenen Text und die Suche nach einer eigenen Sprache, initiiert durch François Delsartes Auffassung des menschlichen Körpers als Medium für künstlerischen Ausdruck, unter anderem gefolgt von Isadora Duncan, vom Modern Dance, vom deutschen Ausdruckstanz oder auch von der Laban-Notation im 20. Jahrhundert.

Ziel der Sektion soll es sein, sich mit den verschiedenen Interaktionsphänomenen, dem Austausch zwischen Literatur und Tanz sowie den möglichen Formen der Übertragung aus der einen in die andere Sprache zu befassen. Wie kann eben jenes geschrieben oder jenes getanzt werden, was in den Augen des anderen Mediums unausdrückbar ist? Wie kann eine Bewegung geschrieben und wie ein Wort getanzt werden? Wenngleich diese Fragestellungen nicht mehr neu sind, so wird ihnen doch zunehmend Aufmerksamkeit in Literatur und Forschung geschenkt, was sich vor allem daran zeigt, dass die Mehrheit der publizierten Werken zu diesen Themenfeldern ab den 1990er Jahren erscheinen. Diesem verstärkten Interesse folgend (vgl. Bührle 2014 und Beauquel 2015) geht es bei der Arbeit in der Sektion also auch gerade darum, eine Bestandsaufnahme der bereits geleisteten Forschungsarbeit zu geben. Daran anknüpfend eröffnet sich nämlich ein breites thematisches und chronologisches Spektrum, welches den Austausch von Forschern, die zu unterschiedlichen Epochen und geistigen Strömungen arbeiten, ermöglichen soll. Um das weitläufige Themengebiet zu strukturieren, werden folgende vier Leitlinien der Sektionsarbeit zugrunde gelegt.

 

Das Libretto und die Librettisten: eine Literaturgattung für den Tanz

 

Die Komödien-, Opern- oder Handlungsballette haben alle den gleichen schriftlichen Ausgangspunkt: das Libretto. Zahlreiche dieser Texthefte stammen aus der Feder von Louis de Cahusac, Molière, Théophile Gautier, aber auch Ludovic Halévy und Henri Meilhac. Dabei scheint das Libretto einen Sonderfall literarischen Schaffens darzustellen: einerseits speist es sich aus literarischen Motiven und Elementen vorangehender Werke in schriftlicher Form; andererseits ist es eben gerade nicht für die schriftliche Publikation gedacht, sondern für die für die choreographisch-szenische Umsetzung auf der Bühne. Giselle, beispielsweise, von Théophile Gautier basiert auf Motiven Victor Hugos und Heinrich Heines, da auf die Figuren der Wilis rekurriert wird. Wenngleich sich der Zugang gelegentlich als schwierig erweist, da eine weitläufige Verbreitung der Librettotexte nicht vorgesehen war, bieten sie ein interessantes Forschungsfeld.

  • Welcher Platz und welcher Stellenwert kommt diesen ‹Vermittlertexten› zwischen zwei Künsten zu?
  • Wie werden Motive der Literatur derart angepasst, dass sie auf der Bühne ihre volle Wirkkraft entfalten können?

 

 

Der Autor als Zuschauer: Versuch der Transkription einer Disziplin

 

Stéphane Mallarmé, Paul Valéry und weitere Autoren haben den Versuch unternommen, den Tanz, welchen sie selbst in der Rolle des Zuschauers beobachteten, auf Papier zu bannen. Dieser Bezug zum Tanz und damit dieser Wille, ihn im literarischen Text abzubilden, stilisiert das Selbstverständnis des Autors hin zur Rolle eines Transkriptors, der im Nachgang einer zunächst passiven Beobachtung versucht, den Tanz in Worte zu fassen (vgl. Cordova 1998). Angesichts des „écart qui sépare l‘expressivité corporelle de celle du verbal“ (ibid.: 36) ist es von Bedeutung zu fragen, wie die Autoren mit gerade diesem Widerspruch umgehen.

  • Welche theoretischen Überlegungen stellen sie hinsichtlich der augenscheinlichen Unvereinbarkeit des literarischen Textes mit dem Getanzten an?
  • Wie nehmen Sie dabei selbst ihre Rolle des Transkriptors zwischen den beiden Künsten wahr?

 

Der Tanz und der Tänzer als literarische Motive: eine Choreographie des Textes?

 

In narrativer Prosa, in Lyrik und im Drama tritt das Tanzen an verschiedenen Stellen als Teil der Handlung in Erscheinung und nimmt damit Einfluss auf den Handlungsverlauf. Diese Form des „dance as text“ (vgl. Goellner, Murphy 1995) gestaltet sich deutlich flexibler als so manch theoretische Überlegung und kann den Text schließlich dazu bringen, sich in eine Choreographie aus Worten zu verwandeln (vgl. Cordova 1998: 36). Dies stellt jedoch potentiell eine Widersprüchlichkeit in sich dar, denn wenn der Tanz zu Text, Handlung, Szenerie oder Figur wird, existiert er nicht mehr um seiner selbst Willen. Er dient der Erzählung, der literarischen Handlung und ist nicht länger Selbstzweck an sich.

  • Welche Ausprägungen kann diese andersartige Nutzung des verschriftlichten Tanzes annehmen?

  • Welche Motive, welche Interpretationen des Tanzes und des Tänzers treten in literarischen Texten in Erscheinung?

Inspiration und Adaptation: der Choreograph und das literarische Werk

 

Die Beziehungen zwischen literarischem Text und choreographischem Schreiben haben sich im Laufe der Zeit unterschiedlich entwickelt. Während historisch betrachtet besonders literarische Texte als Inspirationsquelle für potentielle Adaptationen auf der Bühne dienten, neigt dieses Abhängigkeitsverhältnis von der Literatur ab dem 19. Jahrhundert dazu, sich zu wandeln. Die Choreographie befreit sich vom Text und der Tanz versucht seine ganz eigene Sprache zu entwickeln. Unabhängig von der Epoche oder von der Beziehung zur Literatur reflektieren die Choreographen ebenso wie die Schriftsteller selbst (z.B. Rudolf von Laban, Jan Fabre und Angelin Preljocaj) die Möglichkeiten der Umsetzung von Worten in Gestik.

  • Welche Werke, Motive oder Gattungen bieten einen produktiven Ausgangspunkt, um die Transkription von einer Sprache in die andere umzusetzen?
  • Wie funktioniert Vermittlung eines Inhalts oder einer Idee durch Bewegung und wie kann ein Text verkörpert werden?

 

Gebiet

Literaturwissenschaft

 

Literaturverzeichnis

 

Beauquel, Julia (2015), Esthétique de la danse. Le danseur, le réel et l‘expression, Rennes, Presses Universitaires de Rennes.

Bührle, Iris Julia (2014), Literatur und Tanz – Die Choreographische Adaptation Literarischer Werke in Deutschland und Frankreich vom 18. Jahrhundert bis heute, Würzburg, Verlag Königshausen & Neumann GmbH.

Cordova, Sarah Davies (1998), „Récits de la danse et graphies dansées au XIXe siècle“ in: Littérature – La littérature et la danse, N°112, S. 26-36.

Goellner, Ellen W., Shea Murphy, Jacqueline (1995), Bodies of the text : dance as theory, literature as dance, New Brunswick, Rutgers University Press.

Mesager, Mélanie (2018), Littéradanse, Quand la chorégraphie s’empare du texte littéraire. Fanny de Chaillé, Daniel Dobbels, Antoine Dufeu et Jonah Bokaer, Paris, L’Harmattan.

Nachtergael, Magali, Toth, Lucille (2015), Danse contemporaine et littérature, entre fictions et performances écrites, Pantin, Centre National de la Danse « Recherches ».

Rancière, Jacques (2011), Aisthesis Scènes du régime esthétique de l’art, Paris, Editions Galilée.

Valéry, Paul (1936), Philosophie de la danse, Chicoutimid, Les Classiques des sciences sociales, online verfügbar (zuletzt aufgerufen am 22.08.2019): http://classiques.uqac.ca/classiques/Valery_paul/philosophie_de_la_danse/valery_philosophie_danse.pdf

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