Tagung

Rhythmus, Körper, Narration: Wechselbeziehungen zwischen
Literatur, Tanz und Musik

 

„Musik ist für den Tanz, was Worte für die Musik sind; diese Parallele bedeutet nichts anderes, als dass tanzende Musik das geschriebene Gedicht ist oder sein sollte, das die Bewegungen und die Aktion des Tänzers festlegt und bestimmt; dieser muss es daher rezitieren und durch die Energie und die Wahrheit seiner Gesten, durch den lebendigen und lebhaften Ausdruck seiner Physiognomie verständlich machen. Folglich ist der Tanz in Aktion das Organ,das die geschriebenen Ideen der Musik wiedergeben und klar erklären muss.“
(Jean-Georges Noverre, Letters sur la dance, et sur les ballets, Paris, 1760, p. 142 sq.)

 

 

Eine „tanzende Musik“ wie ein „Gedicht“: Mit diesen Begriffen formuliert Noverre in seinen Lettres sur la dance seine neuartigen Ideen zur Komposition des Balletts. Drei Künste werden durch spielerische Vergleiche miteinander verbunden, wodurch sie sich wechselseitig ausdrücken und erklären sollen. Auch wenn alle zur Kohärenz einer Bühnenproduktion beitragen, die ihrerseits multi-artistisch ist, verfügen die literarischen, musikalischen und choreografischen Praktiken dennoch jeweils über ihre eigenen Medien und Ausdrucksmittel – Worte, Gesten und Klänge –, die auf und durch spezifische Träger mobilisiert werden. Vom Text zur Körperlichkeit, von der Partitur zur Diktion, von der Stimme zur Bewegung, wie koexistieren und verflechten sich diese künstlerischen Disziplinen durch die Praktiken der Künstler1, die sich mit ihnen beschäftigen? Wenn die Fälle, in denen ein Tanz seine Inspiration aus einer Textualität (Libretto2, Gedicht3 usw.) bezieht und auf einer früheren musikalischen Komposition basiert, inzwischen weitgehend identifiziert sind4, scheinen andere künstlerische Begegnungen noch immer wenig dokumentiert zu sein: Wie zum Beispiel können kinetische oder choreografische Figuren musikalische Formen entstehen lassen oder eine literarische Erzählung nähren? Wie kann eine melodische Harmonie geschrieben oder gestikuliert werden? Diese Querschnittspraktiken und die daraus generierten Analysen eröffnen neue Perspektiven.

 

Das Nachdenken über diese Verflechtungen und Wechselwirkungen erfordert eine Reflexion über den Bedeutungsumfang dieser Umsetzungen und die semantische Leere, die sie umgibt, ist in folgender Hinsicht aufschlussreich: Wenn die deutsche Sprache mit dem Substantiv Verschriftlichung die Tätigkeit des In-Schrift-setzens von ursprünglich nicht-schriftlichem Inhalt und das Verb vertonen die Übertragung eines wie auch immer gearteten Gegenstandes in Klang bezeichnet, so existiert andererseits die *Vertanzung nicht und das Verb vertanzen meint einen als gesellschaftliche Unterhaltung oder Zeitvertreib wahrgenommenen Tanz.5 Gleichzeitig hat die französische Sprache kein spezifisches Adjektiv, um die Qualität zu charakterisieren, welche dem Akt des Tanzens innewohnt: Musikalität und Literarität beziehen sich im Allgemeinen auf Klang- und Textpraktiken, während Dansité6 oder Orchésalité7 erst neuerdings und zumeist (fach-)spezifisch Gebrauch finden. Diese sprachlichen Indizien zeugen zweifellos von viel umfassenderen künstlerischen und analytischen Fragestellungen: Liegt dies daran, dass diese Phänomene auf Einzelversuche zurückzuführen und /oder einfach nur weniger sichtbar, weniger dokumentiert sind? Warum und auf welche Art sollten wir ihnen heute (wieder) Beachtung schenken? Wie kann man Möglichkeiten für Annäherung schaffen, um die Transversalität künstlerischer Disziplinen – Tanz, Musik und Literatur – und wissenschaftlicher Methoden – Tanz-, Musik- und Literaturwissenschaft – zu mobilisieren? Es geht darum, Anknüpfungspunkte in den sich überlappenden Schnittflächen der Künste und Medien zu finden: der Begriff des Rhythmus, ob syntaktisch, melodisch oder kinetisch; des Körpers, sei er präsent in Momenten des Lesens oder Schreibens, eingebunden im Singen oder Spielen eines Instruments oder die Projektionsfläche der getanzten Geste; der Narration, sei sie die Äußerung des literarischen Texts, die kinetische Erzählung innerhalb des Tanzes oder die musikalischen Phrasen strukturierend.

 

Akteure und Werke in der Literatur, im Tanz und in der Musik am Schnittpunkt der Künste

Die Beiträge für das Tagungsprogramm können auf – einmalige oder langfristige – Kooperationen zwischen verschiedenen künstlerischen Akteuren in Literatur, Tanz und Musik (Choreografen, Tänzer, Zuschauer, Komponisten, Dirigenten, Musiker, Zuhörer, Schriftsteller, Leser etc.) fokussiert sein. Aus den gemeinsam gestalteten Produktionen oder künstlerischen Gegenständen lassen sich Fragestellungen entwickeln, welche die Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen literarischen, choreografischen und musikalischen Werken hinterfragen.

Wie lassen sich die Wahrnehmungen desselben Kunstwerks entsprechend den Akteuren, die sich mit ihm auseinandersetzen, darstellen? Unterscheidet sich die Musikalität eines Textes, je nachdem, ob man die rhythmischen Intentionen seines Autors berücksichtigt, ob man versucht, ihn zu vertonen, oder ob man ihn still oder laut liest? Ist das choreografische Potenzial einer Musikpartitur in gleicher Weise empfindbar im Ohr eines Zuhörers, der sich unmerklich bewegt, um ihr zu lauschen, oder im Körper des Tänzers, der sie auf der Bühne verkörpert? Mobilisiert die Verbalisierung eines Tanzes ähnliche Ressourcen, je nachdem, ob man sich auf die Dialoge konzentriert, die während des poietischen Prozesses zwischen Künstlern entstehen, auf seine textuelle Umsetzung durch einen Kritiker oder auf die von den Zuschauern produzierten Diskurse? In dieser Hinsicht können drei Modalitäten von Beziehungen und Interaktionen während des Kolloquiums betrachtet werden:

  • eine Musik oder einen Tanz verschriftlichen / in Worte fassen ((über) Musik oder Tanz (be)schreiben)
  • einen Text oder eine Musik vertanzen / gestisch darstellen (Text oder Musik tanzend darstellen)
  • einen Tanz oder einen Text vertonen / zum Klingen bringen (Tanz oder Text erklingen lassen)

Welche Elemente, Strukturen, Motive oder Mechanismen bestimmen oder konstituieren die hier beschriebenen Modi des künstlerischen Austauschs? Wie beeinflussen sich Literatur-, Tanz- und Musikproduktionen gegenseitig? Welche Potenziale offenbaren in diesem Zusammenhang die Begriffe Rhythmus, Körper und Narration?

 

Multiperspektivische Blickwinkel

Die Beiträge sollen Perspektiven auf mindestens zwei der drei genannten Disziplinen – Literatur, Tanz und Musik – fokussieren. Die Triaden Literatur-Text-Wörter, Tanz-Körper-Gesten und Musik-Rhythmus-Klänge kreuzen sich in vielfältiger Weise in den Kunstwerken und in ihren dynamischen Interaktionen (Zirkulation, Weitergabe, Adaption, Rezeption etc.). Durch das Prisma der Begriffe Rhythmus, Körper und Narration versuchen wir, einen transversalen Blick auf die drei Disziplinen und ihre Forschungsgegenstände zu werfen – und dies insbesondere dann, wenn sie mehrere konstituierende Elemente (Wörter, Gesten, Klänge; Textualität, *Tanzlichkeit, Musikalität usw.) vereinen.

Ziel dieser inter- / transdisziplinären Tagung ist es, ein Forschungsfeld zu eröffnen, in dem durch Austausch und Dialog, neue wissenschaftliche Perspektiven möglich werden, damit etablierte Analysemethoden ihre disziplinären Grenzen überschreiten können. Welche heuristischen Ansätze aus der Literaturwissenschaft (Körpernarratologie8, kinetisches Lesen9 etc.) können das Verständnis choreografischer und musikalischer Werke nähren? Welche Wahrnehmungswerkzeuge (Ästhesiologie, kinästhetische Empathie10, Antrieb11, choreomusikalische Analyse12 etc.), die sich aus der Beschäftigung mit den Künsten des Klangs und der Geste ergeben, können im Gegenzug das Verständnis von Textualität beeinflussen? Welche disziplinären Transfers können aus der Tanz- und Literaturwissenschaft heraus funktionieren, um die Analyse musikalischer Praktiken zu erneuern? Schließlich sind es die thematischen und methodologischen Ansätze und der Korpus, die für jede dieser drei Disziplinen spezifisch sind, und die uns dazu einladen, den Blick zu erneuern, den wir auf unsere Forschungsgegenstände werfen.

 

 

Organisationsteam:

Eva Rothenberger (Universität Augsburg)

Céline Gauthier (Université Côte d’Azur)

Charlotte Ladevèze (Universität Augsburg)

Juliane Pöche (Universität Hamburg)

 

Praktische Informationen

Termin: 6. bis 8. Juli 2022 mit Willkommensabend am 5. Juli 2022

 

Ort: Universität Augsburg (Onlineteilnahme via Zoom möglich)

 

Beitragsvorschläge: Ein Vorschlag im Umfang von 300 Wörter sowie eine bio-bibliographische Kursnotiz, auf Französisch oder Deutsch (die beiden Konferenzsprachen) sind über folgende E-Mail-Adresse einzureichen:

Tagung.LiteraturTanzMusik[at]iek.uni-augsburg.de

 

Frist für die Einreichung von Beitragsvorschlägen: 31. März 2022

 

Disziplinen: Literaturwissenschaft, Tanz- oder Theaterwissenschaften, Musikwissenschaft, Kulturgeschichte

 

Hinweis: Alternative Präsentationsformate sind willkommen (Vorschläge für Round Table, Workshops oder Interviews zum Beispiel). Es ist ebenfalls möglich, einen Beitrag zu mehreren anzubieten oder künstlerische Projekte zu präsentieren, die einen Bezug zur Thematik der Tagung haben.

 

Erklärungen zum Ablauf: Die angenommenen Teilnehmer reichen ihre Beiträge als Video / Podcast / ausformulierten Text (Umfang für die ersteren beiden Formate: etwas 20min, für Manuskripte etwa 10 Seiten Fließtext) vor dem 21. Juni 2022 ein. Alle Beiträge werden dann gesammelt den Teilnehmern vorab zur Verfügung gestellt, sodass jeder die Gelegenheit hat, die sich mit Beiträgen der Kollegen in den beiden Wochen vor der Tagung auseinander zu setzen. Diese Vorbereitungsphase ermöglicht es, die Dauer der Beiträge an den Tagungstagen zu reduzieren (etwa 10-12min) und mit diesen pointierten, anregenden Impulsbeiträge den Diskussionsmomenten mehr Raum innerhalb der Zeitslots zu geben. Aufgrund der positiven Erfahrungen mit diesem Tagungsformat soll hieran angeknüpft und nachhaltiger wissenschaftlicher Austausch ermöglicht werden.

 

Bei Rückfragen kontaktieren Sie uns bitte unter der oben angegebenen Email-Adresse.

 

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1 Die im gesamten Text verwendeten Formen des Maskulinums stehen stellvertretend und nicht wertend für eine gendersensible Sprache (Künstler*innen, Choreograf*innen, Tänzer*innen, Zuschauer*innen, Komponist*innen, Dirigent*innen, Musiker*innen, Zuhörer*innen, Schriftsteller*innen, Leser*innen etc.). Aus Gründen der Lesbarkeit und des Verständnisses wurde auf die konsequente Umsetzung im Fließtext verzichtet.

2 Dies ist ein Szenario, das besonders in romantischen Balletten präsent ist und in zahlreichen kritischen Studien analysiert wurde. Siehe zum Beispiel LAPLACE-CLAVERIE Hélène, Écrire pour la danse. Les livrets de ballet de Théophile Gautier à Jean Cocteau (1870-1914), Paris, Champion, 2001.

3 Viele choreografische Künstler verwenden ein Gedicht als direkte oder weiter entfernte Quelle für die Entstehung ihres Tanzes (Nijinski und L’Après-midi d’un Faune von Mallarmé, aber auch Marie Chouinard mit der Sammlung Mouvements von Michaux). Andere Choreografen, wie Carolyn Carlson, greifen direkt auf ihre eigene poetische Produktion zurück, um ihre szenischen Werke zu komponieren.

4 Dies trifft auch auf sehr zeitgenössische Formen zu: siehe MESAGER Mélanie, Littéradanse - Quand la chorégraphie s’empare du texte littéraire. Fanny de Chaillé, Daniel Dobbels, Antoine Dufeu et Jonah Bokaer, Paris, L’Harmattan, 2018.

5 Der Wortgebrauch im Sinne des Übertragens eines Musikstücks in Tanz hat sich in den letzten zwanzig Jahren zusehends verbreitet.

6 GODFROY Alice, Prendre corps et langue : étude pour une dansité de l’écriture poétique, Pantin, Ganse Arts et lettres, 2015.

7 BERNARD Michel, « L'orchésalité », in: De la création chorégraphique, Pantin, Centre national de la danse, 1999, p. 173.

8 PUNDAY Daniel, Narrative Bodies: Toward a Corporeal Narratology, New York, Palgrave MacMillan, 2003.

9 BOLENS Guillemette, Le style des gestes. Corporéité et kinésie dans le récit littéraire, Lausanne, BHMS, 2008.

10 GODARD Hubert, « L'empire des sens... La kinésiologie, un outil d'analyse du mouvement », in: Danser maintenant, vol. 4, CFC Éditions, 1990, pp. 101-105.

11 Der Antrieb ist ein Element innerhalb des kinetisches Analysesystem von Bewegungsqualitäten, das vom Bewegungstheoretiker Rudolf Laban entwickelt wurde. Es berücksichtigt sowohl die innere Motivation der Bewegung – die Empfindungen und Wahrnehmungen, die die Bewegung auslösen – als auch die physikalischen Eigenschaften der daraus resultierenden motorischen Fähigkeiten. Siehe LABAN Rudolf, La maîtrise du mouvement: essai, übersetzt von CHALLET-HAAS Jacqueline et BASTIEN Marion, Paris, Actes Sud, 1994, und LABAN Rudolf, Espace dynamique, übersetzt von SCHWARTZ-RÉMY Élisabeth, Bruxelles, Nouvelles de danse, 2003.

12 Siehe hierzu MCMAINS, Juliet und THOMAS, Ben, «Translating from Pitch to Plié: Music Theory for Dance Scholars and Close Movement Analysis for Music Scholars» in: Dance Chronicle, N° 36, 2013, pp.  196-217, sowie einschlägige Arbeiten von Stephanie Schroedter, z.B.: SCHROEDTER Stephanie, «Körper und Klänge in Bewegung – Auftakte und Wege zu einer Verbindung von Tanz- und Musikwissenschaft», in: Wege. Festschrift für Susanne Rode-Breymann, hg. von Annette KREUTZINGER-HERR, Nina NOESKE, Nicole K. STROHMANN, Antje TUMAT, Melanie UNSELD und Stefan WEISS, Hildesheim, Georg Olms Verlag, 2018, pp. 535-539; dies., «Musikchoreographische Forschungspraxis. Eine Fallstudie zur Historiographie des Experimentellen im Zusammenspiel von Tanz, Musik/Klang und Bildender Kunst», in: Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als Forschungspraxis, hg. von Susanne QUINTEN und Stephanie SCHROEDTER, Bielefeld, transcript, 2016, pp.  223-240; dies., «Musik als eine Kartophonie des Tanzes – Anmerkungen zu dem Verhältnis von (Musik-) Partitur und Choreographie», in: Notationen und choreographisches Denken, hg. von Gabriele BRANDSTETTER, Franck HOFFMANN und Kirsten MAAR, Freiburg, Rombach Verlag, 2010, pp.  67–86.

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