Deutungen sozialer Wirklichkeiten im Europa des Barock

Als historisches Phänomen und im Sinne einer handlungsorientierenden sowie legitimierenden Deutungsleistung kultureller und politischer Phänomene berührte der Traum in der Frühen Neuzeit mehrere zentrale Bereiche des Geschichtsverständnisses. Träume, wie sie in vielfältigen Textsorten und ästhetischen Ausdrucksformen - so etwa in handgeschriebenen und gedruckten Chroniken und Traumberichten, in Ego-Dokumenten, in Theaterstücken in Gemälden und in Graphiken - tradiert wurden, wurden von den Zeitgenossen als offengelegte, verargumentierte Geschichte und als Legitimation für Gegenwart und Zukunft gedeutet; dasselbe galt auch für Visionen im Wachzustand Mit diesem bis ans Ende des 17. Jahrhunderts reichenden Phänomen beschäftigt sich vom 13. bis zum 15. Oktober 2005 eine international besetzte öffentliche Tagung am Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg. Veranstalter sind der Augsburger Althistoriker Prof. Dr. Gregor Weber und sein Erfurter Kollege Prof. Dr. Peer Schmidt, ein Spezialist für lateinamerikanische und südwesteuropäische Geschichte.

 

In der Frühen Neuzeit konnten die auf Träumen und wesensverwandten Ausdrucksformen basierenden Deutungsmuster und Zukunftsprognosen auf Akzeptanz an den Höfen, beim gelehrten Publikum, aber auch beim "gemeinen Mann" zählen. Besonders die literaten Kreise der frühneuzeitlichen Gesellschaft ließen sich von der Rezeption antiker und christlicher Traumbilder - z. B. Artemidor, Jakob und die Himmelsleiter - leiten. Ebenso belegt ist aber auch die Diffundierung dieser Traumbilder in weitere Kreise der Bevölkerung, so etwa im Falle der durch die Danielsprophetie begründeten Legitimation des Alten Reiches und im Zusammenhang mit den Heilserwartungen der Puritaner in der Englischen Revolution. Traumbücher waren äußerst beliebt und wurden breit rezipiert. Zu beobachten ist außerdem die Verselbständigung einer ohne Bezug zur Antike und ohne direkten Bibelbezug auskommenden Traumkultur. In ihr wurden Träume zunehmend als für die Gemeinschaft verbindliche Prognostica wahrgenommen und nicht mehr nur als individuelle Erfahrungen. Wirkungsräume: Vom Staat und der Staatenwelt bis zur Gerüchteküche im Alltag.

 

Politisch erlebte Europa im 16. und 17. Jahrhundert zum einen die weitere Ausformung des frühneuzeitlichen Staates, zum anderen - in der internationalen Dimension - den Versuch, "imperiale" Ansprüche im Rahmen der europäischen Staatenwelt zu reklamieren. Erst die Ausbildung eines kontinentalen Gleichgewichtssystems setzte solchen Machtphantasien ein Ende. In diesen Prozessen, aber auch im Kampf der Religionskulturen ist die Instrumentalisierung von Träumen ebenso deutlich zu erkennen, wie in der Alltagskultur. So kam Träumen bei der Verbreitung von Gerüchten etwa große Bedeutung zu.

 

Die psychosoziale Prädisposition

 

Ohne eine entsprechende zeitgenössische mentale Disposition ließe sich die Rezeption antiker und christlicher Träume und ihrer Deutungen nicht verstehen. Eine aus der Antike in das Mittelalter und in die Frühe Neuzeit hinüberreichende psychosoziale Prädisposition, die den Traumdeutungen realhistorischen Wahrheits-Charakter zubilligte, bildete den Hintergrund für die kollektive Akzeptanz dieser sinnstiftenden Ausdrucksformen und Interpretationen der Realität. Einen letzten Höhepunkt erreichte diese kollektivpsychologische Verfasstheit im 17. Jahrhundert, mit dessen Ende ihr allmähliches Abklingen - "the Decline of Magic" - einsetzte: Die schleichend einsetzende Entzauberung der Welt, der Niedergang des Prodigien- und Magieglaubens, die aufkeimenden Naturwissenschaften und ihre Erkenntnisse sowie die ersten Säkularisierungstendenzen markieren die mentalitätsgeschichtlichen Veränderungen im 18. Jahrhundert.

 

Europaweiter Vergleich

 

In einem europaweit angelegten Vergleich will die Augsburger Tagung eine erste Bilanz aktueller wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit dieser politik-, sozial- und mentalitätsgeschichtlich aufschlussreichen Problematik ziehen. Dabei verbietet die zentrale mentalitätsgeschichtliche Disposition der zur Debatte stehenden Epoche eine Beschränkung auf geschichtswissenschaftliche Perspektiven und Beiträge erfolgen. Besonders die literarischen und künstlerischen Traum-Verarbeitungen verlangen nach einer fachübergreifenden Betrachtung.

 

Interdisziplinärer Zugang

 

Der dementsprechend interdisziplinäre Ansatz der Tagung spiegelt sich in der Grobgliederung des Programms (ausführlich im Anhang): Den beiden Sektionen "Traum und konfessionell-soziale Ordnung" und "Traum als politisch-imperiale Legitimation" ist unter dem Titel "Der mentale Spiegel" ein ausführlicher Block zum Thema "Träume in Literatur und Kunst" vorangestellt. Hier werden aus literaturwissenschaftlicher und kunsthistorischer Sicht die ästhetischen Äußerungen behandelt, in denen die Zeitgenossen des Barock ihre Traumerfahrungen und -reflexionen zum Ausdruck brachten.

 

Traum und Politik Flyer © Universität Augsburg

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