Im Projektvorhaben Transnationale Diskursräume wird der Frage nachgegangen, wie und mit welchen Effekten sich gesellschaftliche Wissensvorräte, Wissensverteilungen und Wissenspolitiken, zusammengefasst: Diskurslandschaften der Gegenwart unter den Vorzeichen von Transnationalisierung und Globalisierung verändern. Der Begriff der transnationalen Diskursräume (Knaut/Keller 2012) bezeichnet vergleichsweise neue, Ländergrenzen übergreifende themen- oder anlassspezifische Arenen der Konstruktion und Problematisierung von Weltphänomenen, oder, anders gewendet, transnationale Formen, Foren und Arenen, in denen Akteure und Wissenspolitiken bzw. Wissensproduktionen in Gestalt diskursiver Formationen bzw. diskursiver Verflechtungen miteinander verknüpft sind. Der Diskursbegriff selbst wird im Verständnis der Wissenssoziologischen Diskursanalyse (Keller 2005) eingesetzt, als Begriff, der (trans-)gesellschaftliche Wissensverhältnisse und deren Prozessierung in transnationalen Wissenspolitiken adressiert.

 

In den vergangenen Jahrzehnten haben verschiedene Entwicklungen zu einer spezifisch neuen Akzentuierung der Zusammenhänge von Transnationalisierungs- und Globalisierungsprozessen einerseits und von Wissensvorräten, Wissenspolitiken und Wissensverteilungen andererseits beigetragen. Dazu gehören bspw. globale ökonomische Verflechtungen, Kommunikations- und Mobilitätstechnologien, Umwelt- und Risikodiskussionen oder die mit der Diskussion um den Holocaust entstandene globale Erinnerungskultur. Die jüngeren Debatten um multiple Modernen und die epistemologische „Provinzialisierung Europas“ (Dipesh Chakrabarty, 2010) machen zugleich deutlich, dass nicht länger von einer ungebrochenen Okzidentalisierung des Globus und des Wissens auszugehen ist. Mit dem ökonomischen und diskursiven Aufstieg anderer Weltgegenden (etwa des ‚globalen Südens‘) ist zweifellos zu konstatieren, dass hier neue Akteure folgenreich in die entsprechenden Diskursarenen eintreten. Die weltweit sehr unterschiedlichen Positionierungen zum Thema Klimawandel belegen dies eindrücklich.

 

Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen untersucht das Projekt Transnationale Diskursräume die folgenden Fragestellungen:

  • Entstehen angesichts der gegenwärtigen Entwicklung von Transnationalisierungen, von globalen Umweltproblemen, von globalen Erinnerungskulturen und von globalen medialen, ökonomischen und ‚ideologischen‘ Verflechtungen genuin transnationale oder globale Wissensvorräte? Wie lässt sich deren thematische und strukturelle Spezifik charakterisieren?
  • Lassen sich spezifische institutionelle Kontexte, Organisationen und Diskursformationen beschreiben, die beim Aufbau und bei der Verteilung transnationaler und globaler Wissensvorräte eine führende Rolle übernehmen? Welche Relevanz haben oder beanspruchen dabei Expertengemeinschaften? Zeichnen sich hier Formen der epistemologischen ‚Provinzialisierung Europas‘ ab? Ließe sich stattdessen eher von einer ‚Pazifizierung‘ der globalen Wissensverhältnisse sprechen?
  • Lassen sich spezifische Wissensformen und Wissensakteure ausmachen, die sich als stärker ‚transnationalisierbar’ oder ‚globalisierungsfähig‘ erweisen als andere? Wächst unter den Vorzeichen von Transnationalisierung und Globalisierung professionellen Praxen und Evidenzkulturen eine besondere Bedeutung zu – oder erodieren unter diesen Vorzeichen gerade solche Praxen in besonderem Maße?
  • Welche Rolle spielen kulturelle und ökonomische Hegemonien und Innovationen, alte und neue Ungleichheiten, Expertisen und Gegenexpertisen beim Aufbau und bei der Verteilung transnationaler und globaler Wissensvorräte?

 

 

Literatur:

Chakrabarty, Dipesh (2010): „Europa als Provinz“. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main.

Keller, Reiner (2005): Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden.

Knaut, Annette/Keller, Reiner (2012): Die Entstehung transnationaler Diskursräume durch die Europäische Bürgerinitiative. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Jg. 25, Heft 4: 37-47.

Lehrstuhl für Soziologie
Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät

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