Kommunen interpretieren Suffizienz bei Klimaschutzstrategien deutlich unterschiedlich
Auf die Energiekrise zu Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben die Regierungen in aller Welt mit verschiedenen Sofortmaßnahmen reagiert, um Energieengpässe zu vermeiden. Zu diesen Maßnahmen, die in erster Linie kurzfristig gedacht waren, gehören Aktivitäten, die durch eine Änderung der sozialen Praktiken Energie sparen. Suffizienzstrategien sind bei politischen Akteuren allerdings äußerst unpopulär. Meist finden diese erst in einer Krisensituation Beachtung. Die Autoren der vorliegenden Studie argumentieren, dass das Konzept der Suffizienz den Möglichkeitsraum für eine sozial-ökologische Transformation erweitern kann, indem es gesellschaftliche Perspektiven auf wünschenswerte Zukünfte einbezieht. Aus diesem Grund untersuchten sie die allgemeine Bedeutung und Relevanz von Suffizienz und dessen Typologie auf kommunaler Ebene. Die Typologisierung ergab vier Typen von Suffizienz, die unterschieden werden können. Die Analyse von 40 Kommunen in Deutschland zeigt außerdem, dass Suffizienz zunehmend an Bedeutung zu gewinnen scheint, es bleibt aber abzuwarten, ob und wie sich dieser Trend angesichts der hart ausgetragenen Konflikte um den Klimaschutz in vielen Ländern weiterentwickelt.
Story Highlights
- Die vorliegende Studie zeigt, dass die Interpretation von Suffizienz von zentralem Interesse ist, wenn es um transformative Ziele und die Auswahl vorgeschlagener Maßnahmen für Klimaschutzstrategien geht.
- Suffizienzstrategien lassen sich leicht in technologieorientierte Paradigmen integrieren. Dies birgt aber die Gefahr, dass Suffizienz als eine Art Zusatzstrategie marginalisiert wird, während technologische Optimierungen als Hauptziele beibehalten werden.
- Im politischen Verständnis und Handeln sollte Suffizienz ein sektorübergreifendes und rahmensetzendes Leitprinzip des Klimaschutzes sein. Daraus sollte eine normative gesellschaftliche Vision wachsen.
Forschungsfragen und -strategie
Die Fragen, die sich die Autoren stellten: Welche Bedeutung hat Suffizienz als Strategie in den Klimaschutzkonzepten deutscher Kommunen? Wie wird Suffizienz in den untersuchten Klimaschutzkonzepten interpretiert? Wie lassen sich die unterschiedlichen Interpretationen von Suffizienz einordnen und in eine Typologie überführen?
Das Konzept der Suffizienz öffnet und erweitert den Raum für Möglichkeiten, für eine sozial-ökologische Transformation, denn es kann auch gesellschaftliche Perspektiven mit einer (konsensfähigen) wünschenswerten Zukunft beinhalten (Beck et al. 2021; Keck und Flachs 2022). Die transformative Kraft dieser Ideen hängt jedoch in hohem Maße davon ab, welcher Stellenwert der Suffizienz eingeräumt wird und welche Interpretationen des Konzepts sich durchsetzen. Allerdings wurde in bisherigen Studien nicht berücksichtigt, wie unterschiedliche Priorisierungen und Verständnisse von Suffizienz die konkrete Politik prägen. Das Ziel der vorliegenden Studie war es, diese Lücke zu schließen, indem die Klimaschutzkonzepte von 40 deutschen sogenannten Masterplan-Kommunen analysiert werden. Diese lokalen Vorreiter erhielten in zwei aufeinanderfolgenden Förderperioden von 2012 bis 2020 nationale Mittel, um Vorbilder für den kommunalen Klimaschutz in Deutschland zu werden.
Die Autoren heben hervor, dass eine solche Fokussierung auf die lokale Ebene von besonderer Relevanz ist. Auf der lokalen Ebene sind Suffizienzstrategien bereits erprobt und werden vor Ort erfahrbar. (Schneidewind und Zahrnt 2014). Während sich die meisten Konzepte zur Eindämmung des Klimawandels fast ausschließlich auf die technologischen Strategien der Effizienz und Konsistenz konzentrieren (z. B. erneuerbare Energien), wird Suffizienz in der öffentlichen Politik zunehmend als sozial-organisatorisches Gestaltungsmittel angesehen, insbesondere auf kommunaler Ebene (z. B. Tempo 30 in Städten).
Referenzen:
Schneidewind, U. and A. Zahrnt (2014). The Politics of Sufficiency: Making It Easier to Live the Good Life., Munich: Oekom.
TYPOLOGISIERUNG VON SUFFIZIENZ UND DIE JEWEILIGEN FOLGEN FÜR DIE KLIMAPOLITIK
In der Studie wurden nun die zentralen Dimensionen von Suffizienz herausgearbeitet und anhand dieser eine Typologisierung durchgeführt, die eine grundlegende Unterscheidung zwischen vier Typen kommunaler Suffizienz ermöglicht: Technophile, Privatisierer, Visionäre und Frameworker. Diese stellen die vorherrschenden Interpretationen in kommunalen Klimaschutzkonzepten in Deutschland dar:
- Visionäre versprechen sich vom „Bottom-up-Ansatz“ die Idee eines kulturellen Wandels, der durch die Verbreitung suffizienterer individueller Lebensstile initiiert wird. Visionsbildner räumen Suffizienz einen höheren Stellenwert ein und betrachten Suffizienz als zentrales Element des gesellschaftlichen Wertewandels. Allerdings werden diese Visionen kaum in konkretes Handeln umgesetzt, und die Rolle der Kommune ist meist die eines eher passiven, wenn auch wohlmeinenden Beobachters eines von außen getriebenem zivilgesellschaftlichem Wandel. Bewusstseinsbildung und die Förderung von Nischenakteuren stehen im Mittelpunkt vieler damit verbundener Maßnahmen.
- Rahmensetzer oder Frameworker sehen Suffizienz als genuines Politikfeld und konzentrieren sich auf Reformen der strukturellen Rahmenbedingungen, um Suffizienz besser zu ermöglichen. Kommunen dieses Typs haben Suffizienz als Leitprinzip in verschiedenen klimarelevanten Sektoren verankert und in konkrete Maßnahmen umgesetzt.
- Beim Privatisierer herrscht das Bild von Suffizienz als individuelle Praxis vor, die Entscheidungsträger allenfalls durch Information und Appelle fördern können. Klima- und Umweltschutz werden ohne die gesellschaftliche Dimension formuliert. Die Privatisierer reichen die Verantwortung und das Handeln den einzelnen Bürgerinnen und Bürger weiter. Es fehlt an normativen Zielen für einen transformativen Wandel; strukturelle Maßnahmen werden nicht angegangen.
- Der Technophile konzentriert sich ausschließlich auf technische Lösungen. Suffizienz spielt dabei keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle. Durch technologische Strategien können zwar punktuelle Einsparungen erzielt werden, es besteht jedoch die Gefahr, dass diese Einsparungen nicht ausreichen, um Treibhausgasemissionen in der erforderlichen Geschwindigkeit und Größenordnung zu reduzieren. Sogenannte Rebound-Effekte sowie Wachstumseffekte werden nicht berücksichtigt, so dass die Konzepte oft gravierende Lücken aufweisen.
Weiterführende Literatur:
Spengler, L. (2018). Sufficiency as Policy: Necessity, Possibilities and Limitations., Baden-Baden: Nomos.
Ergebnisse der Studie
Die kommunale Ebene ist ein wichtiger Rahmen für die Aushandlung, Anwendung und Verbreitung von Suffizienz. Allerdings spielt Suffizienz sowohl auf kommunaler als auch auf nationaler Ebene bislang nur eine untergeordnete Rolle. Die Analyse von 40 Kommunen in Deutschland zeigt zwar, dass Suffizienz zunehmend an Bedeutung gewinnt; dabei wird Suffizienz aber sehr unterschiedlich interpretiert, was sich auf die Art der gewählten Maßnahmen auswirkt. Transformative Ziele werden in die politische Praxis umgesetzt, indem Suffizienz in die Strategien verschiedener klimarelevanter Maßnahmen eingewoben wird. Bei der Auswahl der Maßnahmen ist hierbei das jeweilige Suffizienz-Verständnis von zentraler Bedeutung. Die bloße Erwähnung von Suffizienz in Klimapolitiken oder als Ergänzung von technologischen Konzepten reicht allerdings nicht aus, um die Herausforderungen des Klimawandels ausschließlich mit Effizienz- und Konsistenz-Strategien zu bewältigen. Die Ergebnisse zeigen auch, dass nur wenige Kommunen eine tiefgreifende sozial-ökologische Transformation anstreben; die meisten Kommunen, die Suffizienz berücksichtigen, adressieren private Haushalte als Verantwortliche für die Umsetzung von Suffizienz. Strukturelle Rahmenbedingungen werden kaum berücksichtigt. Suffizienz muss in Zukunft stärker in den Klimaschutzkonzepten berücksichtigt und aus der Nische der Zusatzstrategie gehoben werden.
Funding:
This work was partly funded by the Federal Ministry of Education and Research (BMBF) within the junior research group “BioKum”. This publication was also supported by funds from the NiedersachsenOpen publication fund, sponsored by zukunft.niedersachsen.
Wissenswertes
Suffizienz, als dritte Säule von Nachhaltigkeitsstrategien, ist dagegen eng mit sozialem Wandel verbunden, und setzt ein Mindestmaß an Bewusstsein und Verantwortung für den persönlichen Ressourcenverbrauch voraus oder eine politische Steuerung des Ressourcenverbrauchs durch entsprechende steuernde Maßnahmen (z.B. CO2-Bepreisung). Auch eine Kombination dieser Bottom-up und Top-down-Maßnahmen ist denkbar. Einige Wissenschaftler halten allerdings Suffizienz-Bemühungen ohne grundsätzlichen Systemwandel in Gesellschaft und Wirtschaft als aussichtslos.
Lage et al. (2022) unterscheiden demnach drei verschiedene Ansätze. Erstens fokussiert der Bottom-up-Ansatz "auf Veränderungen in individuellen Lebensstilen, Konsummustern und kulturellem Wandel" als inkrementellen Wandel. Zweitens betrachtet der Policy-Making-Ansatz Suffizienz als politisch organisierbar durch geeignete Rahmenbedingungen in reformorientierter Weise (Schneidewind und Zahrnt 2014; Spengler 2018). Der Social-Movement-Ansatz schließlich fordert einen grundlegenderen und disruptiven Wandel und beschreibt Suffizienz als etwas, "das innerhalb des aktuellen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems nicht umsetzbar ist". Alle Ansätze enthalten bestimmte Potenziale und Grenzen.
Die Betrachtung von Suffizienz als politische Aufgabe wird jedoch als wichtige Grundlage für das Erreichen ambitionierter Klimaziele gesehen, da die Hoffnung auf die Verbreitung kleinräumiger Veränderungen sozialer Praktiken auf individueller Ebene allein oft als unzureichend angesehen wird, um die notwendigen weitreichenden strukturellen, transformativen Veränderungen zu bewirken (Alfredsson et al. 2018).