Extraterritoriale Schutzpflichten und ihre Entfaltung – dargestellt am Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit

Wenn der deutsche Staat Entwicklungsprojekte im Ausland fördert, die die Verwirklichung sexueller und reproduktiver Gesundheit und Rechte beinhalten, dann wirft das Fragen der Gültigkeit des deutschen Grundgesetzes bei der Entwicklungszusammenarbeit auf. Einige Partnerländer verfolgen bei Schwangerschaftsabbrüchen eine liberalere Regelung als Deutschland. Im Rahmen der Entwicklungsarbeit kann es dann zu Konflikten mit den deutschen Grundrechten kommen. Denn eine einfache Übertragung der innerdeutschen Normen zur Lösung des Konflikts zwischen dem Schutz des ungeborenen Lebens und den Rechten der Schwangeren in der Entwicklungsarbeit ist aufgrund der Ausnahmesituation des Handelns oder der Genese auf dem Territorium des Partnerlandes nicht möglich. Das Grundgesetz orientiert sich am Völkerrecht und öffnet dadurch einen Handlungsspielraum für die deutschen Entwicklungshelfer. Dieser basiert auf gemeinsamen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Partnerländer und der Achtung der staatlichen Souveränität des Entwicklungslandes.

 

 

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Citation:

 

Fontana, S.; Lang, L. Extraterritoriale Schutzpflichten und ihre Entfaltung – dargestellt am Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit. Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht / Heidelberg Journal of International Law 2024, 84 (2), 331-364. DOI: 10.17104/0044-2348-2024-2-331

 

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Story Highlights:

  • In seinem Klimabeschluss postulierte das Bundesverfassungsgericht 2021 erstmals eine Entfaltung in der Dimension der Schutzpflicht.
  • Im Falle der Entwicklungszusammenarbeit müssen die grundrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes im Rahmen des völkerrechtlich Möglichen durchgesetzt werden.
  • Gemeinsame völkerrechtlichen Verpflichtungen und die Achtung der Souveränität des Partnerlandes müssen aber gewahrt bleiben.
  • Am Beispiel der liberaleren Gesetze Südafrikas zum Schwangerschaftsabbruch wird gezeigt, dass die Zusammenarbeit im Einklang mit den gemeinsamen menschenrechtlichen Verpflichtungen stehen. 
Lehrstuhlinhaberin
Prof. Dr. Sina Fontana - Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Krisenresilienz

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EXTRATERRITORIALE SCHUTZPFLICHTEN UND IHRE ENTFALTUNG IM SPANNUNGSFELD

Südafrika hatte 1996 das Recht zum Schwangerschaftsabbruch liberalisiert mit einem unbedingten Recht der schwangeren Frau, innerhalb der ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft einen Abbruch vornehmen zu lassen. Die vorliegende Abhandlung von Sina Fontana und Lorenz Lang zeigt im Detail auf, dass sich die Grundrechtsbindung grundsätzlich auch in diesem Kontext in schutzpflichtenrechtlicher Dimension entfalten kann. Um sich im Einklang mit der südafrikanischen Rechtslage zu bewegen, bedarf es einer entsprechenden modifizierten Übertragung der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätze zum Schutz des ungeborenen Lebens auf die dortige Rechtslage. Die im Vergleich zur deutschen Rechtslage liberaler auszulegende Entwicklungszusammenarbeit auf dem Gebiet des Schwangerschaftsabbruchs steht dabei der deutschen Rechtslage aus verfassungsrechtlichen Gründen aber nicht entgegen. Durch völkerrechtlich bedingte Modifizierungen ergibt sich im auswärtigen Handeln ein größerer Handlungsspielraum als im Inland – in den meisten Fällen ergibt sich daraus ein Rahmen für einen völkerrechtskonformen Handlungskorridor. 
Für das konkrete Beispiel bedeutet das, dass der deutsche Staat es vertreten kann, sich gegen einen Rückzug und für eine Fortsetzung der Entwicklungszusammenarbeit zu entscheiden. Dies dient der Festigung zwischenstaatlicher Beziehungen sowie der Gewährleistung eines Mindeststandards sexueller und reproduktiver Gesundheit und Rechte im Partnerland Südafrika. Das Bundesverfassungsgericht hatte insoweit festgestellt, dass sich der deutsche Staat für ein vermindertes Schutzniveau gegenüber dem deutschen Recht entscheiden kann; insbesondere, wenn die Grundrechte andernfalls in noch geringerem Maße umgesetzt würden. Im Fall Südafrika könnten demnach Schwangerschaftsabbrüche vermittelt werden, zu denen es bei einem Rückzug aus der Entwicklungsarbeit nicht gekommen wäre. Falls doch, könnte es aber in den vorliegenden Fällen zu einer Gefährdung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit der Betroffenen durch die Durchführung unsicherer Abbrüche kommen. Insgesamt kann hier also von zusätzlichem Lebensschutz ausgegangen werden und damit einer Annäherung an die Verwirklichung sämtlicher betroffener Rechte. Diese Abwägung spiegelt das grund- und menschenrechtliche Spannungsfeld zwischen dem Lebensschutz einerseits sowie der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte auf der anderen Seite wider. Die Auflösung dieses Spannungsfeldes wird international und völkerrechtlich nicht einheitlich bewertet – selbst im innerstaatlichen Diskurs herrscht in vielen Staaten, wie auch in Deutschland, kein Konsens in dieser Frage.

Die im Artikel beschriebenen Maßstäbe lassen sich auf andere Schutzpflichtenkonstellationen übertragen – bedingt durch grenzüberschreitende Wirkungen staatlichen Handelns oder Unterlassens. Es gilt die außenpolitischen Handlungsspielräumen unter Vorbehalt des völkerrechtlich Möglichen auszuloten. Vom deutschen verfassungsrechtlichen Schutzkonzept abweichende Richtungsentscheidungen der Partnerländer dürfen – solange sie im Einklang mit den gemeinsamen menschenrechtlichen Verpflichtungen stehen – nicht zur Einmischung führen, die sich auf grundrechtliche Schutzpflichten nach deutschem Recht berufen.

Gefördert durch:

Bayerische Staatsregierung

Wissenswertes

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Staatliche Schutzpflichten

„Der Staat hat die völkerrechtliche Verpflichtung, die Menschenrechte zu respektieren, zu schützen und zu gewährleisten. Staaten müssen den Schutz vor Menschenrechtsverletzungen gewähren, die in ihrem Hoheitsgebiet und/oder ihrer Jurisdiktion von Dritten, einschließlich Wirtschaftsunternehmen, verübt werden. Dies setzt voraus, dass sie durch wirksame Politiken, Gesetzgebung, sonstige Regelungen und gerichtliche Entscheidungsverfahren geeignete Maßnahmen treffen, um solche Verletzungen zu verhüten, zu untersuchen, zu ahnden und wiedergutzumachen.“ (Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales)
Die öffentliche Hand hat sich also schützend und fördernd vor die Grundrechte zu stellen, um seinen staatliche Schutzpflichten nachzukommen.

 

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