Grüner Klee und Dynamit

PROJEKTTEAM

  • Carl Bosch Museum Heidelberg
    kontakt@carl-bosch-museum.de
    Tel.: 06221 603616
    Jan Dübbers
    Bianca Flock
    Hajo Hauptmann
    Sabine König
    Gerda Tschira
  • Knut Völzke (Leise Design),
    knut.voelzke@leise-leise.com
    Tel.: 069 2199801
  • Dr. habil. Claudia Schmidt
     
  • PD Dr. Jens Soentgen
    soentgen@wzu.uni-ausgburg.de
    Tel.: 0821 598 3560

FÖRDERUNG

  • High Tech Offensive Zukunft Bayern
  • Klaus Tschira Stiftung gGmbH, Heidelberg
© Universität Augsburg

Worum geht es?
Die Haber-Bosch-Synthese, mit der seit nunmehr 100 Jahren Stickstoffdünger aus Luft und Erdgas hergestellt wird,aber auch Sprengstoff, wird oft als wichtigste Erfindung des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Eine solche Sichtweise ist naheliegend, denn der vermeintlich banale Stickstoffdünger hat durch einen technischen Bypass eine fundamentale ökologische Grenze überwunden. Reaktiver Stickstoff, der Motor allen biologischen Wachstums, ist in der Natur knapp. Nachschub liefern nur bestimmte Bakterien sowie Gewitter (Blitze) durch die Umwandlung von elementaren, atmosphärischen in reaktive, pflanzenverfügbare Stickstoffverbindungen. Damit waren bislang – auch dem Menschen – unverrückbare Grenzen gesetzt, wird doch das Pflanzenwachstum und damit die Nahrungsmittelproduktion durch das natürliche reaktive Stickstoffvorkommen limitiert. Heute dagegen ist reaktiver Stickstoff durch die industrielle Stickstoffsynthese im Überfluss herstellbar und wird seit inzwischen über 100 Jahren in stetig steigender Menge produziert. Das trug auch dazu bei, dass der Erste Weltkrieg bis 1918 dauerte, denn ohne technisch erzeugten Stickstoff wäre dem deutschen Heer schon 1915 die Munition ausgegangen. Auch heute ist das Haber-Bosch-Verfahren von militärischer Bedeutung, weil weiterhin nahezu alle Treibladungen und Sprengstoffe aus reaktivem Stickstoff bestehen.
Ebenso wichtig ist die ökologische Dimension, denn mit dem aus dem Haber-Bosch-Verfahren gewonnenen, reaktiven Stickstoff konnten die landwirtschaftlichen Nutzflächen vervielfacht und die Ernten weltweit gesteigert  werden. Das Bevölkerungswachstum auf derzeit 7 Milliarden Menschen wäre ohne die Haber-Bosch-Synthese nicht möglich gewesen. Vor 50 Jahren, zum damals 50. Jubiläum der Ammoniak-Synthese, schrieb der spätere
BASF-Vorstandsvorsitzende Bernhard Timm stolz, dass dank Haber-Bosch „1962 in der Welt ein Mehraufkommen von 224 Mill. Tonnen Getreide erzeugt wurde, das ohne die Stickstoff-Industrie einfach zur Ernährung
der Menschheit nicht zur Verfügung gestanden hätte“. Heute ist dieser Beitrag noch weitaus größer. Im Jahr 2011 wurden weltweit 136 Millionen Tonnen reaktiver Stickstoff in Form von Ammoniak synthetisiert, das ist
ungefähr ebenso viel wie die durch biologische Prozesse an Land gebundene Stickstoffmenge. Die Anwendung des Haber-Bosch-Verfahrens hat die ökologischen Grenzen des Menschen gesprengt; heute sind wir gefordert, uns selbst Grenzen zu setzen. Darin liegt die welthistorische Bedeutung dieses Verfahrens.


Die neue Stickstofffrage
Bei nüchterner Betrachtung muss festgehalten werden, dass sich uns heute ein neues Problem stellt, nämlich die „umgekehrte Stickstofffrage“: Wie bekommen wir den überall diffundierenden, reaktiven Stickstoff wieder aus der Natur? Reaktiver Stickstoff in der Luft, in den Flüssen, im Brunnen, im Meer – wo früher zu wenig war, ist heute zu viel. Denn nur vier bis vierzehn Prozent des für Kunstdünger hergestellten reaktiven Stickstoffs werden tatsächlich zu Nahrung veredelt und dienen dazu, uns satt zu machen. Der größte Teil verdunstet und versickert auf dem langen Weg von der Anlage über den Acker, über den Viehstall bis zum Teller.
Im Golf von Mexiko breitet sich jedes Jahr im Frühjahr eine „tote Zone“ im Meer aus, ein Areal so groß wie Hessen, völlig leblos, ohne Krabben, ohne Garnelen, ohne Fische. Und Resultat der hohen Stickstofffrachten des Mississippi, der durch alle großen Korn-Staaten Nordamerikas fließt und dabei die stickstoffreichen Abwässer
der Äcker aufnimmt. Neben den enormen Produktionssteigerungen, die das Haber-Bosch-Verfahren ermöglicht,
zieht seine Anwendung anderswo Totalverluste nach sich. Die Schäden, welche der Fischerei und dem Tourismus
in den am Golf von Mexiko angrenzenden Staaten entstehen, belaufen sich auf Milliarden.
Die Europäische Union (EU) kam in einer auf Europa begrenzten Berechnung auf Kosten zwischen 70 und 320 Milliarden Euro, die durch Stickstoff-Verschmutzung jedes Jahr entstehen. Das wäre ein Mehrfaches des Wertes,
den der Stickstoffdüngergebrauch der Landwirtschaft einbringt. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen
(SRU) schreibt in seinem Sondergutachten zum Stickstoff: „Die Einträge reaktiver Stickstoffverbindungen sind
inzwischen so hoch, dass globale Tragfähigkeitsgrenzen überschritten werden“ (SRU 2015, S. 32). Er empfiehlt
die Entwicklung einer nationalen Stickstoffstrategie und geht davon aus, dass „in Deutschland mindestens eine
Halbierung der Stickstoffeinträge notwendig ist, um bestehende nationale und europäische Qualitätsziele zu erreichen“ (SRU 2015, S. 24f.).
Der britische Chemiker William Crookes zeichnete am Ende des 19. Jahrhunderts das „Horrorszenario“, dass
England und Europa hungern müssten, weil der Weizen nicht hinreichend gedüngt werden könne. Das Weizenproblem wurde gelöst. Die Problemlösung aber brachte Folgeprobleme. Welches Genie erfindet nun den „umgekehrten Haber-Bosch“? Dieser umgekehrte Haber-Bosch, der den reaktiven Stickstoff dort verschwinden lässt, wo er nicht hingehört, wird keine riesige Industrieanlage sein. Sondern ein Bündel von Maßnahmen, die sinnvoll ineinandergreifen. In den USA ist man uns voraus, vielleicht, weil dort die unerwünschten Nebenwirkungen der künstlichen Düngung im Golf von Mexiko jährlich geballt sichtbar sind. Dort gibt es eine nationale Nutrient
Task Force, die jedes Jahr einen Action Plan verabschiedet. Eine der erfolgreichen Maßnahmen ist die Wiedervernässung von Feuchtgebieten. Denn in Feuchtgebietenwird durch Mikroorganismen reaktiver Stickstoff in Luftstickstoff rückverwandelt und so aus dem Boden entfernt. Eine andere Maßnahme ist die Einführung von Best-Practice-Maßnahmen in der Landwirtschaft, die auf einen weniger sorglosen Umgang mit Gülle und
Kunstdünger abzielen. In der EU wurde 2011 ebenfalls ein Stickstoff-Assessment durchgeführt, in Deutschland
hat die Deutsche Bundesstiftung Umwelt (DBU) ein Stickstoffprogramm aufgelegt. Nicht zu vergessen ist der
Beitrag der ökologischen Landwirtschaft, die ganz ohne Kunstdünger auskommt.


Die Ausstellung
Unsere Ausstellung „Grüner Klee und Dynamit – Der Stickstoff und das Leben“ erzählt die oben skizzierte
Geschichte des Stickstoffs mit vielen einzigartigen Exponaten. Wir erläutern die biologische Bedeutung des Stickstoffs, seine ökologische Problematik, aber auch seine politische Relevanz. Mittelalterliche Ateliers des
Alchemisten und des Salpeterers werden reizvoll kontrastiert durch moderne Hochtechnologie. Viele Handson- Exponate machen den Stoff und seine Geschichte begreifbar. Die Ausstellung ist für Besucher aller Altersstufen ab 8 Jahren geeignet. Ein Buch über die Geschichte des Stickstoffs ergänzt die Ausstellung.
Die Ausstellung wurde zunächst 2013 im Naturmuseum der Stadt Augsburg eröffnet und dann im Carl Bosch
Museum in Heidelberg gezeigt. Sie wanderte anschließend ins Umweltbundesamt nach Dessau und wurde vom Stadtmuseum Ingolstadt, vom Naturkundlichen Bildungszentrum in Ulm sowie vom Museumsdorf Baruth (bei Berlin) vorgestellt. Weitere Stationen, darunter Solothurn (Schweiz), sind geplant. Ein Buch über die Geschichte des Stickstoffs, herausgegeben von Prof. Dr. Gerhard Ertl und Dr. Jens Soentgen, erschien als Band 9 in der WZU-Reihe „Stoffgeschichten“ im Herbst 2015. Die Habilitationsschrift von Dr. habil. Claudia Schmidt, in der die Stickstoffausstellung untersucht wird, wurde im WS 2014/2015 von der Philosophisch- Sozialwissenschaftlichen Fakultät angenommen.


Literatur:
• Ertl, G./Soentgen, J. (Hg.) (2015) N. Stickstoff – ein Element
schreibt Weltgeschichte. Reihe Stoffgeschichten,
Bd. 9., München: oekom -Verlag.
• Soentgen, J. (2014) 100 Jahre industrielle Ammoniaksynthese:
Vom ‚Weizenproblem‘ zur ‚neuen Stickstofffrage‘
Chemie in unserer Zeit 48(1), S. 72–75.
• Soentgen, J. (2013) Vom wheat problem zur neuen
Stickstofffrage, Editorial, Gaia 22 (4), S. 217.
• Schmidt, C. (2015) Ressource Bildung - ein didaktisches
Konzept für Entscheidungen unter Nachhaltigkeit
Würzburg: Ergon-Verlag.
• SRU (Sachverständigenrat für Umweltfragen) (2015)
Stickstoff: Lösungsstrategien für ein drängendes Umweltproblem,
Sondergutachten: Hausdruck, Berlin.

Suche