Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel mit seinen Eltern. Kommentierte Ausgabe

Beteiligte Wissenschaftler:
Nicoletta Giacon/Konrad Heumann/Mathias Mayer

 

Projektförderung:
DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft)

 

Zusammenfassung

Hugo von Hofmannsthals Briefwechsel mit seinen Eltern umfaßt über 2200 Briefe, Karten und Telegramme, die größtenteils in den Jahren 1892–1915 entstanden. Die Publikation dieser Schriftstücke, die bis jetzt nur zu einem sehr kleinen Teil und zudem in unzureichender Edition zugänglich waren, ist seit langem ein wichtiges Desiderat der Hofmannsthal-Forschung. Da Hofmannsthal während seiner zahlreichen Reisen fast täglich an die Eltern schrieb, bietet der Briefwechsel für diese Zeiten eine nahezu lückenlose Chronik. Damit leistet die Edition einen zentralen Beitrag zur Biographik Hofmannsthals, macht die komplizierte Entstehungsgeschichte der literarischen Werke in ihrer synchronen Vernetzung sichtbar, gibt Einblick in ganz unterschiedliche Intellektuellenzirkel der Jahrhundertwende und bildet schließlich ein umfangreiches Archiv für kulturwissenschaftliche und mediengeschichtliche Fragestellungen. Die Edition schließt hinsichtlich der Textkonstitution und der Gestaltung des Apparatsteils an die in den letzten Jahrzehnten entwickelten Standards für Briefeditionen an. Neue Wege geht sie, indem sie den Stellenkommentar durch fortlaufende ›Blockkommentare‹ ergänzt, in denen schrittweise der lebens- und werkgeschichtliche Kontext geschildert wird, dem die Briefe entstammen. So läßt sich die Edition sowohl vom Textteil wie auch vom Apparatteil aus lesen. Förderung: DFG (bis 30. 4. 2005), danach: Hofmannsthal-Stiftung, Ludwig Sievers-Stiftung, NASPA-Stiftung, Cronstett- und Hynspergische ev. Stiftung. Derzeit wird das umfangreiche Editionsmanuskript redaktionell bearbeitet. Die Ausgabe erscheint im S. Fischer Verlag.

 

Beschreibung

„Was man im Schatten seiner Eltern thut, ist wie ein Pfeil, den man in die Ewigkeit abschießt.“ (Tagebuch 1905)

Das Verhältnis zwischen Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) und seinen Eltern war in vieler Hinsicht eigentümlich. Anna von Hofmannsthal (1849-1904) und Hugo von Hofmannsthal sen. (1841-1915) hatten das einzige Kind von Anfang an zu ihrem Lebensmittelpunkt gemacht und seine Erziehung zu einer »fast sakramentalen Lebensaufgabe, der mit der innigsten und peinlichsten Sorgfalt aller Kräfte, alle Erwägungen, alle Maßnahmen sich unterordneten«, wie Rudolf Borchardt in einer biographischen Skizze schrieb. Der Sohn erwiderte diese Fülle an Zuwendung und blieb seinen Eltern bis zuletzt mit einer Unbedingtheit verbunden, die für einen Dichter des 20. Jahrhunderts alles andere als gewöhnlich ist und zuweilen beklemmende Formen annahm.

 

Der Briefwechsel ist Ausdruck dieser engen Beziehung. Wenn sich Hofmannsthal nicht in Wien befand, schrieb er täglich an seine Eltern, um gewissenhaft über seine Erlebnisse, seine Arbeit und seine weiteren Pläne Auskunft zu geben. Entsprechend ist die Korrespondenz schon vom Umfang her außergewöhnlich. Zu Beginn der editorischen Arbeiten lagen 1500 Briefe, Postkarten und Telegramme von Hofmannsthals Hand vor, die im Freien Deutschen Hochstift (Frankfurt am Main) und im Deutschen Literaturarchiv (Marbach am Neckar) verwahrt werden. Inzwischen sind aus Privatbesitz weitere 200 Schriftstücke hinzugekommen. Von diesen etwa 1700 Briefen sind 150 aus den beiden seit langer Zeit vergriffenen Briefsammlungen bekannt, die Hofmannsthals Schwiegersohn Heinrich Zimmer 1935 und 1937 vorlegte. Diese Ausgaben sind jedoch nur bedingt zitierfähig, vor allem deshalb, weil die Briefe nicht datiert und Auslassungen nicht als solche kenntlich gemacht wurden. Die Gegenbriefe, also die Schreiben der Eltern an den Sohn, sind sämtlich unpubliziert. Es haben sich 300 Briefe des Vaters und 250 der Mutter erhalten. Das Mißverhältnis zwischen Briefen und Gegenbriefen erklärt sich aus dem Umstand, daß ab dem Jahr 1901 fast alle Schreiben der Eltern verloren sind.

 

Die Publikation dieser insgesamt etwa 2250 Korrespondenzstücke, die größtenteils aus den Jahren 1892-1915 stammen, gehört zu den wichtigsten Desideraten der Hofmannsthalforschung. Ihre wissenschaftliche Bedeutung erstreckt sich auf fünf Bereiche:

 

Biographie

Nicht ohne Grund ist Hofmannsthals Biographie, sieht man Werner Volkes Bildmonographie von 1967 ab, bis heute ungeschrieben. Tatsächlich ist es nicht leicht, die einzelnen Stationen seines Lebens zu motivieren, d. h. aus benennbaren Erfahrungen zu begründen. Hermann Broch prägte für das Verschwimmen der biographischen Kontur bei Hofmannsthal frühzeitig den Begriff der ›Ich-Verschweigung‹. Dieser Befund erscheint angesichts des Briefwechsels mit den Eltern in einem anderen Licht. Die Korrespondenz bietet nicht nur über einen Zeitraum von mehr als 23 Jahren eine zuverlässige Chronik der Ereignisse, die für die Mitglieder der Familie relevant sind, sondern darüber hinaus immer auch deren Deutung. Aufgrund der gegenseitigen Verpflichtung zur rückhaltloser Offenheit waren die Familienmitglieder gehalten, alle Entscheidungen vor den anderen nachvollziehbar zu rechtfertigen, und sei es unter dem Druck bohrender Nachfragen. So gibt der Briefwechsel zugleich Einblick in Hofmannsthals biographische Konstellation, über deren Spezifik die Forschung nach wie vor im Unklaren ist.

 

Entstehungsgeschichte der Werke

Hofmannsthal berichtet seinen Eltern kontinuierlich und detailliert über den Stand seiner Arbeiten und über Verhandlungen mit Verlegern und Herausgebern von Zeitschriften. Ferner schildert er Erlebnisse, die sich als Realreminiszenzen in seinen Werken wiederfinden.

 

Soziologie der (Wiener) Intellektuellen um die Jahrhundertwende

Für Untersuchungen zu Intellektuellenkreisen um die Jahrhundertwende v. a. in Österreich und Deutschland ist der Briefwechsel ein aufschlußreicher Fundus, da sich Hofmannsthal keinem Zirkel eindeutig zuordnen läßt, sondern vielen Gruppierungen zugleich angehört, deren spezifische Grenzen und Durchlässigkeiten im Gespräch mit den Eltern sichtbar werden.

 

Theorie künstlerischen Handelns

Im Gespräch mit den Eltern geht es immer auch um die Bedingungen künstlerischer Produktivität. Hofmannsthal entwirft in seinen Briefen ein elaboriertes System der vielfältigen Abhängigkeiten, denen seine Phantasie und seine Sprachmächtigkeit ausgesetzt sind, um den Eltern und sich selbst das beständige Schwanken zwischen Schreibstrom und Schreibhemmung verständlich und berechenbar zu machen. Abhängig ist die Produktion von den klimatischen und meteorologischen Gegebenheiten, aber auch vom sozialen Umfeld, in dessen Mittelpunkt seine Eltern stehen.

 

Mentalitäts- und Kulturgeschichte

Kultur- und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen finden reiches Material. Besonders interessant ist hier der Komplex der Körper- und Leiberfahrung, der in allen seinen Facetten thematisch ist. Die Zeichen und Regungen des Körpers werden auf der Folie des medizinischen Wissens der Zeit beschrieben und gedeutet, unter besonderer Berücksichtigung von Krankheiten als krisenhafter Erfahrung der Unverfügbarkeit der eigenen Natur. Als Mentalitätsarchiv ist der Briefwechsel Hofmannsthals mit den Eltern durchaus mit den Tagebüchern Harry Graf Kesslers, Thomas Manns und Arthur Schnitzlers vergleichbar.

 

Die Edition bietet den buchstabengetreu wiedergegebenen Text der Briefe, einen knappen textkritischen Apparat, Erläuterungen zu Einzelstellen, ein Glossar seltener Wörter sowie eine Einführung samt Herausgeberbericht. Mehrere Register sollen die systematische Erforschung des Textkorpus ermöglichen, wobei der Schwerpunkt auf dem Personenregister liegt, in dem möglichst viele der erwähnten Personen durch Lebensdaten, Angabe des Berufs und der Beziehung zu Hofmannsthal eindeutig identifiziert werden. Eine EDV-Fassung des Editionsmanuskripts als Beilage zur Buchpublikation wird erwogen.

 

Die Editoren arbeiten eng mit der Kritischen Ausgabe der Sämtlichen Werke Hugo von Hofmannsthals zusammen, die seit den 70er Jahren im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt am Main erarbeitet wird. Die Ausgabe wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.

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