Reflexive Friedensforschung
Projektbeschreibung
Ausgehend von der Beobachtung, dass für eine wachsende Zahl (welt-) gesellschaftlicher Konflikte die bestehenden Institutionen der Konfliktbearbeitung überfordert sind oder garkeine geeigneten Institutionen vorhanden sind, entwickelt dieses Projekt in Kooperation mit Praxispartnern reflexive Ansätze gesellschaftspolitischer Konfliktbearbeitung. Zugrunde liegt dieser Projektentwicklung ein Verständnis gesellschaftlicher Konflikte (auf allen sozialen Ebenen) als konstitutiver und transformierender Bestandteil des Sozialen, deren Bearbeitung unter bestimmten Gerechtigkeits- und Friedensbedingungen zu einem höheren (oder geringeren) Maß an gesellschaftlicher (Des-) Integration führen. Durch die institutionalisierte Bearbeitung von Konflikten sollen nicht nur destruktive, den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdende Austragungsformen verhindert werden (z.B. Gewaltprävention), sondern durch die reflexive Bearbeitung auch institutioneller Wandel ermöglicht werden. Berücksichtigt werden dabei zugleich die Bildung und der Wandel kollektiver Identitäten sowie die Auswirkungen differierender Wirklichkeitswahrnehmungen und die emotionalen Bedürfnissen nach sozialer Zugehörigkeit und Gemeinschaftserleben bei der Bearbeitung von Konflikten.
Das geplante Projekt verfolgt damit auch die epistemologische Klärung einer solchen, auf praxisrelevante Ansätze ausgerichteten Sozialforschung: Zu beachten ist folglich die sozio-epistemische Herausforderung, dass gesellschaftspolitisch kaum ein ausreichendes Verständnis für wissenschaftliche Weltbeschreibungen entstehen kann, wenn diese wissenschaftlichen Weltverständnisse nicht in einen gleichberechtigten Austausch mit den die Praxis anleitenden und bestimmenden Weltverständnisse gebracht werden. Damit wird jenes Wissenschaftsverständnis in Frage gestellt, welches Praxis und Forschung dichotomisiert und auf dieser Annahme einen Austausch („Politikberatung“) zwischen diesen zwei Sphären einfordert. Gerade im Zusammenhang gesellschaftspolitischer Konflikte kann sich eine reflexive Sozialwissenschaft nicht auf die Rolle der Erkenntnislieferantin für politische und/oder zivilgesellschaftliche Akteur*innen zurückziehen. Stattdessen sieht der Ansatz vor, mit den Praktiker*innen gemeinsam, durch Anwendung wissenschaftlicher Methoden in der Praxis Einsichten und Verständnisse zu erarbeiten, die dann zu alternativen Handlungsoptionen führen, in deren Umsetzung und bei der Beobachtung der Konsequenzen wiederum die Wissenschaftler*innen ebenso einbezogen bleiben, wie von Anfang an die Praktiker*innen in die Theoriearbeit zu involvieren sind. Dieses, den inzwischen 50-jährigen Erfahrungen der Friedensforschung entlehnte Verständnis einer wertorientierten, interdisziplinären und praxisorientierten Forschung in Verbindung mit den Forschungsergebnissen zu Reflexiver Politikberatung eröffnet neue Perspektiven für eine anwendungsorientierte Friedens- und Konfliktforschung zu Fragen der konstruktiven Bearbeitung gesellschaftspolitischer Konflikte in der Weltgesellschaft.
Literatur
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- Rungius, Charlotte/ Schneider, Elke/ Weller, Christoph 2018: Resilienz - Macht - Hoffnung: Der Resilienzbegriff als diskursive Verarbeitung einer verunsichernden Moderne, in: Gutwald, Rebecca/ Karidi, Maria/ Schneider, Martin (Hrsg.): Resilienz. Interdisziplinäre Perspektiven zu Wandel und Transformation, Wiesbaden, 33-60.
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- Schröder, Nora Sophie 2017: A Civic Studies Perspective on European Citizens: In Search for Potential in the Conflict surrounding TTIP, in: European Societies and Politics, published online: 16.08.2017.
- Gulowski, Rebecca/ Weller, Christoph 2017: Zivile Konfliktbearbeitung. Kritik, Konzept und theoretische Fundierung, in: Peripherie 148: 37, 386-411
- Weller, Christoph/ Rungius, Charlotte 2017: Reflexive Politikberatung. Wandel erforschen und gestalten, in: Bayerischer Forschungsverbund ForChange (Hrsg.): Ergebnisse und Handlungsempfehlungen, München, 30-31.
- Weller, Christoph 2017: "Krisenprävention bedarf reflexiver Formen der Außenpolitikberatung “ erschienen im PeaceLab 2016 des Auswärtigen Amts zur Entwicklung neuer Leitlinien der Bundesregierung für Krisenengagement und Friedensförderung.
- Weller, Christoph 2017: Friedensforschung als reflexive Wissenschaft, in: Sicherheit und Frieden 35: 4, 174-178.
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- Schröder, Nora Sophie 2014: Active European Citizenship between Action and Vision: “Doing Europe” as an alternative Approach to European Identity Construction , in: Open Citizenship: Youth in Europe - A lost Generation?, 5: 2.
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- Weller, Christoph 2013: Konflikte in der pluralisierten Gesellschaft. Oder: Integration durch Konfliktbearbeitung, in: Michael Reder/ Hanna Pfeifer/ Mara-Daria Cojocaru (Hrsg.): Was hält Gesellschaften zusammen? Der gefährdete Umgang mit Pluralität, Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer, 47-53.
- Ludwig, Bernhard/ Weller, Christoph 2011: Reflexion und Kommunikation: Konflikte erkennen, verstehen und verarbeiten, in: EQUA-Stiftung (Hrsg.): Gesellschafterkompetenz. Die Verantwortung der Eigentümer von Familienunternehmen (EQUA-Schriftenreihe Band 10/2011), Bonn: Unternehmer Medien, 77-89.
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- Weller, Christoph 2005: Gewalt, Frieden und Friedensforschung. Eine konstruktivistische Annäherung, in: Jahn, Egbert/ Fischer, Sabine/ Sahm, Astrid (Hrsg.): Die Zukunft des Friedens, Band 2: Die Friedens- und Konfliktforschung aus der Perspektive der jüngeren Generationen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 91-110.
- Weller, Christoph 2000: Collective Identities in World Society, in: Albert, Mathias/ Brock, Lothar/ Wolf, Klaus Dieter (Hrsg.): Civilizing World Politics: Society and Community beyond the State. Lanham, Md./Oxford: Rowman & Littlefield, 45-68.
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