Emanzipation nach der Emanzipation. Jüdische Geschichte, Literatur und Philosophie von 1900 bis heute.
Das Projekt
Ausgehend vom jüdischen Emanzipationsdiskurs des 19. Jahrhunderts und dessen enger Verschränkung mit angrenzenden Emanzipationsdiskursen – der Frauen, des ‚vierten Standes‘, der Jugend, auch der ‚Emanzipation des Fleisches‘ –, fragt das Projekt der interdisziplinär zusammengesetzten, trilateralen Arbeitsgruppe (Israel, Deutschland, USA) nach der Fortsetzung dieser Diskursformation/en nach 1918 bzw. nach ihrer Aufhebung in angrenzenden Diskursformationen nach 1933. An den Werken vieler jüdischer Autorinnen und Autoren in der Zeit der 1920er Jahre und danach lässt sich zeigen, wie stark der Emanzipationsgedanke programmatische Texte zur ‚Judenfrage‘ auch nach der Zäsur des Ersten Weltkriegs noch prägt. Zugleich lässt sich in der Literatur und Philosophie nach 1933 nachvollziehen, auf welche Weise Konzeptionen von (jüdischer) Emanzipation im 20. Jahrhundert auf die Brüche reagieren, die durch die Erfahrung von Entrechtung, Exil und Shoah gegeben sind.
Das Projekt ist gegliedert in zwei Arbeitsphasen, deren erste sich schwerpunktmäßig mit den Jahren 1900–1933 befasste und bis auf ein Arbeitstreffen im Juli 2021 und die geplante Abschlusstagung im Februar 2022 bereits abgeschlossen ist, und die zweite Arbeitsphase, die sich mit den Jahren 1933 bis zur Gegenwart befasst. Für die erste Abschlusstagung (Teilband I) sowie für die zweite Arbeitsphase mit vier Workshops und Abschlusstagung (Teilband II) wird eine Netzwerk-Förderung bei der DFG beantragt.
1. Leitfragen der ersten Arbeitsphase waren: In welcher Weise formiert sich die Enttäuschung über den von vielen Juden als gelungen, von vielen aber auch als gescheitert erlebten Prozess der jüdischen Emanzipation im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einem Diskurs, in dem die (Wieder-)Gewinnung jüdischen Selbstbewusstseins sich als ‚Jüdische Renaissance‘ die im 19. Jahrhundert weitgehende Integration in die und Assimilation an die christliche Mehrheitsgesellschaft wieder rückgängig zu machen versucht? Lassen sich wechselseitige Beeinflussungen zwischen christlichen und jüdischen Erneuerungsbewegungen nachzeichnen und ihr Niederschlag in (religions-)philosophischen und literarischen Werken näher bestimmen und auswerten im Blick auf ein differenzierteres Verständnis der jüdischen Emanzipationsbewegung in den unterschiedlichen Judentümern im Deutschland der Zwischenkriegszeit? Und schließlich: in welcher Weise artikulieren sich jene Strömungen im deutschen Judentum, die den Emanzipationsprozess nicht als gescheitert begreifen und sich, zum Teil mit scharfer Polemik, von Vertreterinnen und Vertretern der ‚Jüdischen Renaissance‘ abgrenzen?
2. Für die zweite Projektphase sind folgende Fragen leitend: In welcher Hinsicht ist der Emanzipationsgedanke in den Jahren nach 1933 noch brauchbar? Lassen sich anhand (religions-) philosophischer und literarischer Werke der deutschsprachigen und für den deutschsprachigen Diskurs relevanten Texte, zunehmend auch Filme und Serien, Entwicklungen nachvollziehen, die in eine Emanzipation vom „deutschen Gedächtnistheater“ führen? Wie verhält sich die Rede vom „Zivilisationsbruch“ zu Kontinuitäten und Bezugnahmen auf einen (vermeintlich?) dialogischen Austausch und eine (scheinbar?) geteilte Tradition vor und nach 1933? In welchem Verhältnis stehen deutschsprachige Kultur und Geschichte in Israel zu den beiden deutschen Erinnerungsdiskursen in Ost und West? Wie lässt sich das Verschmelzen der beiden deutschen Erinnerungsdiskurse beschreiben, welche Konsequenzen leiten sich daraus ab? Lässt sich mit der „Wende“ ein Abwenden vom ‚Emanzipationsparadigma‘ verzeichnen, ein Denken, das den „Zivilisationsbruch“ als „Stunde Null“ setzt? Oder sind in der Verbündung der jungen jüdischen Bewegung in Deutschland mit angrenzenden Emanzipationsbewegungen – von Muslima/en, Frauen, People of Color – vergleichbare Verschränkungen zu beobachten, wie sie in den Emanzipationsdiskursen des 19. Jahrhunderts erkennbar sind? Finden sich Formen der (Rück)Besinnung auf religiöse Identitäten, wie sie auch für das erste Drittel des 20. Jahrhunderts charakteristisch sind? Erhält die Emanzipation von der Emanzipation, die sich in der Bewegung der ‚Jüdischen Renaissance‘ vor 1933 ausmachen lässt, nach 1945 aus der Perspektive der Erfahrung der Shoah den ahistorischen Charakter des ‚Prophetischen‘, der alternative jüdische Positionsbestimmungen insbesondere im assimilierten Judentum als ‚naiv‘ erscheinen lässt? Lassen sich im gegenwärtigen Diskurs Revisionen dieser ‚Schieflage’ ausmachen, etwa wenn Autoren wie Maxim Biller sich prononciert und programmatisch auf Vorbilder wie Kurt Tucholsky beziehen, der auch angesichts der existentiell bedrohlichen Judenverfolgungen im nationalsozialistischen Deutschland vehement darauf beharrte, sich nicht der jüdischen Leidensgemeinschaft anzuschließen, sondern „im Jahre 1911 ‚aus dem Judentum ausgetreten‘“ zu sein? In welcher Hinsicht lassen sich Parallelen und Differenzen zu aktuellen Diskursen ausmachen? Und wie sind diese fruchtbar zu machen für historische Perspektivierungen der Debatten der Zwischenkriegszeit und aktueller Debatten? In der zweiten Projektphase dienen neben philosophischen und literarischen Zeugnissen als wichtige Indizien für diese Entwicklungen ab 1933 unterschiedliche Formen der Vermittlung in Museen, im Theater, im Schulunterricht etc.
Nach einer längeren Vorbereitungsphase mit gemeinsam durchgeführten Lehr- und Forschungsprojekten hat sich die Forschergruppe im Juni 2017 (Konzeptlabor 27./ 28. Juni 2017) formiert. Am 6.6.–8.6.2018 nahm sie mit einem Workshop zum Thema „Emanzipation und Religion“ ihre Arbeit auf. Im Abstand von ca. sechs Monaten folgten weitere Workshops. Im Februar 2022 ist eine Tagung zum Abschluss der ersten Projektphase zum Thema „Emanzipation nach der Emanzipation“ in Planung.
Das Projekt ist am Jakob-Fugger-Zentrum für Geisteswissenschaften an der Universität Augsburg angesiedelt und wird ab 1.1.2022 als Netzwerkgruppe von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.
Sprecherin der Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Bettina Bannasch (Universität Augsburg), stellvertretender Sprecher: Dr. George Kohler (Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan)
Terminüberblick
1. Workshop: Religion und Emanzipation
6. – 8. Juni 2018
Leitung: Bettina Bannasch, Doren Wohlleben
Ort: Universität Augsburg
2. Workshop: Deutscher Geist – Jüdischer Geist
9. – 11 Januar 2019
Leitung: Thomas Meyer, Itta Shedletzky
Ort: Universität Augsburg
3. Workshop: Emanzipationsdiskurse vor und nach dem Holocaust
26. – 28. Juni 2019
Leitung: Bettina Bannasch, George Y. Kohler
Ort: Universität Augsburg
4. Workshop: Emanzipation des Individuums – Emanzipation des Kollektivs
26. – 28. Februar 2020
Leitung: George Y. Kohler, Benjamin Pollock
Ort: Joseph Carlebach Institut, Ramat Gan, Israel
5. Workshop: Freiheit und Politik
8. – 10. März 2021
Leitung: Philipp Lenhard, Doren Wohlleben
6. Workshop: Nationalismus, Irrationalismus und Jüdische Identität
4. Juli 2021 (digitale Zoom-Veranstaltung)
Leitung: Theresia Dingelmaier
Abschlusstagung Projektphase I: Jüdische Emanzipation und Jüdische Renaissancen
22.–24. Februar 2022;
Leitung: Bettina Bannasch, George Kohler
Kontakt
- Telefon: +49 821 598 - 2778
- E-Mail: bettina.bannasch@philhist.uni-augsburg.de
- Raum 4031 (Gebäude D)
- Telefon: +49 821 598 - 5807
- E-Mail: George-Yaakov.Kohler@biu.ac.il
- Raum 4048 (Gebäude D)