Die politische Gliederung der Welt 1914

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges waren die "weißen Flecken" auf der Weltkarte nahezu völlig verschwunden. Europa, dessen außereuropäische Besitzungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts rund 55 Prozent der Erde und gegen Ende der 1860er Jahre ca. 67 Prozent umfasst hatten, beherrschte am Beginn des Ersten Weltkriegs 84,4 Prozent der Territorialgebiete der Erde.
 

Während der pazifische Raum und Afrika (mit Ausnahme Liberias und Abessiniens) zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollständig unter den europäischen Mächten aufgeteilt waren, blieben weite Teile Asiens" z.B. China, Tibet, die Mongolei, Siam, die islamischen Länder Vorder- und Südasiens, das Osmanische Reich sowie unerschlossene Gebiete Persiens und Afghanistans " von der europäischen Herrschaft unberührt, was aber nicht bedeutet, dass diese sich der wirtschaftlichen und politischen Einflussnahme der Imperialmächte hätten vollständig entziehen können.
 

Großbritannien

Trotz (oder auch: wegen) des Verlusts der nordamerikanischen Kolonien (1783) konnte Großbritannien im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zur beherrschenden Weltmacht aufsteigen. Um 1900 gab es keine Region der Welt, in nicht der Großbritannien als führende Welthandels- und Seemacht seinen politischen oder wirtschaftlichen Einfluss geltend gemacht hätte. Das Kolonialimperium, das bis1914 entstanden war, zeigte in verwaltungstechnischer und juristischer Hinsicht eine höchst heterogene Struktur.
 

Die britische Ordnungspolitik war vor dem Ersten Weltkrieg fast ausschließlich auf die Siedlungskolonien gerichtet. 1867 entstanden das Dominion of Canada, 1900 das Commonwealth of Australia und 1907 das Dominion of New Zealand. 1910 wurden die Kapkolonie und Natal mit den beiden im Burenkrieg (1899-1902) eroberten Burenrepubliken Transvaal und Oranje zur Südafrikanischen Union vereinigt.
 

Neben diesen Siedlungskolonien behauptete das Indische Reich, das 1857 aus der Herrschaft der East India Company in die Krone übergegangen war, insofern eine Sonderstellung, als neben dem Kaiserreich Indien rund 450 indische Fürstentümer bestanden.
 

Ferner umfasste das britische Kolonialreich noch eine große Anzahl weiterer Kronkolonien und Protektorate, wie z.B. Besitzungen in Westindien, strategisch wichtige Plätze im Mittelmeer (Gibraltar, Malta, Zypern " alle seit 1878) sowie Ceylon, Singapur und Hongkong.
 

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bildete Afrika für Großbritannien, wie auch für die anderen europäischen Kolonialmächte, den wichtigsten Ausdehnungsraum. Die britische Expansion erfolgte gleichzeitig vom Süden ins Zentrum des Kontinents (Rhodesien, erworben 1890) und durch Inbesitznahme des Ostens (Somaliland 1884/87, Uganda 1890/1901, Sansibar 1890" im Tausch gegen Helgoland) wie auch des Nordostens Afrikas.
 

Die britische Besetzung Ägyptens (1882) und das Vordringen in den Sudan (seit 1899) führten unausweichlich in die Konfrontation mit Frankreich, das die Vorherrschaft in Nord-, West- und Zentralafrika anstrebte. Großbritannien sicherte die Seewege seines Herrschaftsgebiets durch Verträge mit den Emiraten am Persischen Golf, mit der Piratenküste und Hadramaut sowie weiteren Inseln bzw. Inselgruppen im Indischen Ozean ab. Im Westen Afrikas bestand kein einheitliches britisches Einflussgebiet.
 

Frankreich

Wie das britische, so umfasste auch das französische Kolonialreich vor Beginn des Ersten Weltkriegs Besitzungen auf allen Kontinenten. Neben Indochina lag der zweite Schwerpunkt des französischen Kolonialbesitzes auf den seit den 1880er Jahren eroberten Gebieten Afrikas, wo Frankreich die größten zusammenhängenden Kolonialgebiete hatte, darunter jedoch auch weite Teile mit wirtschaftlich wertloser Wüste. Dabei waren Algerien (seit 1830), Indochina (seit 1858) sowie Stützpunkte an der afrikanischen Westküste (z.B. Senegal) für die französische Expansion von entscheidender Bedeutung.

Daneben gab es auf dem afrikanischen Kontinent die großen Landmengen Tunesiens (1881) und Marokkos (1912) sowie die Föderationen Französisch-Westafrika und Französisch-Äquatorialafrika, die jedoch die wirtschaftlichen Erwartungen des Mutterlandes nicht erfüllen konnten. Ferner umfasste der französische Besitz in Afrika Französisch-Somaliland (1888), Madagaskar (1885/1912) und die Komoren (1885/1912).
 

Russland

Die russische Expansion hatte mit ihrer kontinentalen Ausrichtung einen grundsätzlich anderen Charakter als die britische, französische und deutsche. Sie verfolgte das Ziel, sich auf der geschlossenen Landmasse auszudehnen und das große Territorium abzusichern. Nachdem die südostasiatische Expansion im Zuge der Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg (1904/05) abgebrochen worden war, verlagerte Russland sein Hauptinteresse auf den Balkan und die Kontrolle der Meerengen im östlichen Mittelmeer. Der Balkan, wo sich die Interessen verschiedener Großmächte kreuzten, wurde zum permanenten Krisengebiet bzw. zum "Pulverfass Europas".
 

Deutsches Reich

Das Deutsche Reich trat erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in den Wettlauf der kolonialen Aufteilung der Welt ein und eignete sich dabei einen Kolonialbesitz an, der sehr weit verstreut lag und von geringem wirtschaftlichem Wert war.

In Afrika erwarb das Deutsche Reich Togo, Kamerun, Deutsch-Südwest-Afrika (alle 1884) und Deutsch-Ostafrika (1885) sowie im Pazifik das Bismarckarchipel und Kaiser-Wilhelm-Land (beide 1884), die Marshallinseln (1885), die Marianen und Karolinen sowie die Palau- und Samoainseln (alle 1899), wobei die eigentliche Inbesitznahme jener Territorien erst nach 1890 erfolgte.
 

Italien

Ähnlich wie Deutschland und in Anlehnung an das Deutsche Reich trat das Königreich Italien erst spät in den Prozess der kolonialen Aufteilung der Welt ein und erlitt in Abessinien (Protektorat 1889-1896) schwere militärische Niederlagen. Am Beginn des Ersten Weltkriegs bestand der italienische Kolonialbesitz nur aus Libyen (1912) sowie ostafrikanischen Gebieten in Somaliland und Eritrea (beide seit 1889).
 

Japan

Erst zur Jahrhundertwende trat das Kaiserreich Japan, das um 1880 an das internationale Telegraphennetz angeschlossen war, in den Kreis der Kolonialmächte ein.

Es machte Ansprüche im Japanischen und Chinesischen Meer sowie auf dem chinesischen Festland geltend (Formosa 1895, Korea" 1905 Protektorat, 1910 Kronkolonie). Im Russisch-Japanischen Krieg (1904/05) behauptete sich Japan auf dem Festland und konnte seinen Aufstieg zur imperialen Großmacht fortsetzen. Nur durch das Eingreifen der europäischen Mächte konnte eine japanische Annexion der Mandschurei (seit 1905 besetzt) verhindert werden.
 

USA

Der US-Amerikanisch-Spanische Krieg (1898), in dessen Folge die westindischen und pazifischen Besitzungen Spaniens an die USA fielen, führte zum US-amerikanischen Engagement im pazifischen Raum. Während man Kuba in die Unabhängigkeit entließ (1902), wurden 1898 Puerto Rico, die Inseln Wake und Guam sowie die Philippinen annektiert. Hawaii suchte im selben Jahr um Aufnahme in die Union nach. Nach der Unabhängigkeit Panamas (1904) erwarben die USA ein schmales Protektoratsgebiet, in dem der Panamakanal realisiert wurde.
 

Portugal und andere alte Kolonialmächte

Im Gegensatz zu Großbritannien und Frankreich hatten die anderen alten Kolonialmächte im Allgemeinen kaum Anteil an der imperialistischen Expansion vor dem Ersten Weltkrieg. Eine Ausnahme bildete jedoch Portugal, das seinen traditionellen Kolonialbestand wahren und ausbauen konnte. Obwohl es wirtschaftlich und militärisch schwach war, verlor es außer Brasilien (1822) keine Gebiete und konnte zudem in Afrika seine Besitzungen, z.B. in Angola und Portugiesisch-Ostafrika, erweitern.

 

Literaturhinweise:

  • Kreutz, Wilhelm: Die Welt um 1914, in: Zeeden, Ernst Walter (Hrsg.): Großer Historischer Weltatlas, 3. Teil: Neuzeit, Erläuterungen, München (zweite Auflage) 1993, S. 377-290.
  • Albertini, Rudolf v.: Europäische Kolonialherrschaft 1880-1940, Stuttgart 21985.
  • Fieldhouse, David: Die Kolonialreiche seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1998.
  • Mommsen, Wolfgang J.: Das Zeitalter des Imperialismus, Frankfurt a.M. 1969.

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