Überseeische Migration 1820-1914

Die Überseewanderungen des 19. Jahrhunderts stellen bis heute die größte Massenmigrationsbewegung in der Geschichte dar. Der immense Migrationsanstieg des späten 19. Jahrhunderts war eng mit der beschleunigten Ausweitung der Verkehrs- und Kommunikationsmittel, der Märkte und des Handels sowie der internationalen Arbeitsteilung verbunden und hatte naturgemäß sehr starke Auswirkungen auf die weltwirtschaftlichen und insbesondere auch die transatlantischen Verflechtungen. Die Massenwanderung umfaßt den Zeitraum vom europäischen Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg.
 

Bis zum Ersten Weltkrieg bildete die europäische Auswanderung in die USA und andere Weltregionen die zahlenmäßig stärkste Teilbewegung. Insgesamt verließen zwischen 1820 und 1914 rund 43,6 Millionen Menschen den europäischen Kontinent, wobei die stärkste Wanderungsbewegung (rund 32 Millionen Menschen) im Zeitraum zwischen 1880 und 1914 stattfand. Das Hauptzielgebiet war der amerikanische Kontinent, wo 85 Prozent der europäischen Migrantinnen und Migranten eine neue Heimat fanden. Insgesamt wanderten zwischen 1820 und 1914 rund 61,8 Prozent (31,9 Millionen) der europäischen Migrantinnen und Migranten in die USA ein, rund 9,1 Prozent (4,7 Millionen) nach Argentinien, 8,3 Prozent (4,3 Millionen) nach Australien und Neuseeland, 8,1 Prozent (4,2 Millionen) nach Kanada sowie weitere 6,7 Prozent (3,4 Millionen) nach Brasilien (die hier fehlenden 6 Prozent lassen sich nicht zuordnen).

Die Gründe für die Massenauswanderung sind vielfältig. Generell lässt sich festhalten, dass zwei Faktoren zusammenkommen mussten: auf der einen Seite schlechte Lebensbedingungen in der Heimat, auf der anderen Seite eine hohe Attraktivität des Zielgebietes. Ca. 90% der europäischen Auswanderer verließen ihre Heimat aufgrund wirtschaftlicher Not, während diejenigen Menschen, die aus politischen, ethnischen oder religiösen Gründen ihrer Heimat mehr oder minder freiwillig den Rücken kehrten, von zahlenmäßig untergeordneter Bedeutung sind.
 

Neben der zentralen Bedeutung der europäischen Migrationen sind auch die asiatischen Bevölkerungsbewegungen, wie z.B. die Auswanderungen aus China, Indien und Japan, keineswegs zu vernachlässigen. Die asiatischen Auswanderer waren in hohem Maße (angeheuerte) Kontraktarbeiter ("indentured labourers"; engl. „indenture“: Kontrakt, Arbeitsvertrag). Deren wachsende Anzahl hing einerseits mit dem seit der Jahrhundertmitte einsetzenden Rückgang des Sklavenhandels, andererseits mit einem gestiegenen Arbeitskräftebedarf (z.B. Eisenbahnbau) im Zuge der Industrialisierungen zusammen. So beschäftigte Großbritannien nach dem Verbot der Sklaverei (1834) in seinen Kolonien zahlreiche indische Kontraktarbeiter.
Die Hauptströme der asiatischen Migrationen richteten sich in erster Linie auf andere asiatische Länder, in zweiter Linie auf die USA. So lebten am Ende des 19. Jahrhunderts bereits mehr als 300.000 Chinesen in den USA, von denen der größte Teil vor dem Einwanderungsverbot für Chinesen (1882) eingewandert war und überwiegend im Eisenbahnbau Beschäftigung gefunden hatte.

Indische Auswanderer gingen vorzugsweise nach Britisch-Westindien und auch nach Mauritius und Südafrika. Innerhalb Asiens wanderten Inder nach Ceylon, Malaysia und Burma, wobei der Anteil der Saison- und Rückmigration außerordentlich hoch war. Das war ein indisches Phänomen.

Die japanische Migration setzte vergleichsweise spät ein, da die Auswanderungsverbote erst 1885 aufgehoben worden waren. Bis 1907 wanderte über eine halbe Million Japaner aus, von denen etwa ein Drittel nach Hawaii und ein weiteres nach Korea (ca. 15 %) und in die USA (ca. 15 %) gingen. Mehr als jeweils 10 Prozent wandten sich China und dem asiatischen Teil Russlands zu. 1907 verfügten die USA die erste gesetzliche Beschränkung der Zuwanderung aus Japan.
 

Literaturhinweise:

  • Hoerder, Dirk: Cultures in Contact: World Migrations in the Second Millennium, Durham, N.C. 2002.
  • Mckeown, Adam: Global Migration, 1846-1940. From the Journal of World History Vol. 15, Issue 2.
  • Pohl, Hans: Aufbruch der Weltwirtschaft. Geschichte der Weltwirtschaf von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1989, S. 91-97.
  • Thistlethwaite, Frank: Europäische Überseewanderung im 19. und 20. Jahrhundert, in: Köllmann, W., Marschlack, P. (Hrsg.): Bevölkerungsgeschichte, Köln 1972, S. 323-255.

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