Internationale Kapitalbewegungen 1875-1914

Michael Wobring

Großbritannien war zu Beginn des Ersten Weltkrieges der größte Kapitalexporteur und die führende Handelsnation der Welt. Die britischen Auslandsanlagen waren größer als die französischen und deutschen zusammen und umfassten etwa die Hälfte aller auf der Welt vorgenommenen internationalen Kapitalbewegungen. Großbritannien, der "Bankier der Welt", exportierte Kapital in über 100 Staaten.

Der internationale Kapitalverkehr wurde maßgeblich durch die Industrialisierungen vorangebracht. Sie führten zu Kapitalakkumulation und internationaler Arbeitsteilung, wodurch in vielen Ländern ein Kapitalbedarf entstand, der nicht mehr allein durch inländische Kapitalüberschüsse gedeckt werden konnte. Im Hinblick auf den Ausbau der Telekommunikation ist festzuhalten, dass einerseits der Kapitalverkehr zum Ausbau der Kommunikationsstrukturen beigetragen hat und andererseits die Entfaltung des internationalen Kapitalverkehrs nicht ohne verbesserte Fernkommunikationsmöglichkeiten denkbar gewesen ist.
 

Die wichtigsten Kapitalmärkte befanden sich vor dem Ersten Weltkrieg in den großen Handelsmetropolen der Welt. An der Spitze standen London, Paris und Berlin als Hauptstädte der größten europäischen Kapitalexporteure sowie New York, das sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als führender Bankenplatz der USA etabliert hatte.


Während im Jahre 1854 Kontinentaleuropa noch über 50 Prozent der britischen Auslandsanlagen aufnahm, sank dieser Anteil bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges auf nur noch fünf Prozent. Die britischen Investitionen richteten sich damals vor allem auf die Staaten des Empire, die USA und Lateinamerika. Sachgegenstände der Investitionen waren Eisenbahnen (vgl. z.B. Britisch-Indien sowie andere Infrastrukturprojekte (vgl. auch den Aufbau von Land- und Seekabelnetzen, Industrie- und Bergbauunternehmen sowie Banken und Handelsgesellschaften.
 

Deutschland und Frankreich traten erst nach 1880 auf den internationalen Kapitalmärkten in Erscheinung, und zwar vorwiegend in Europa. Die französischen Anlagen befanden sich zur Jahrhundertwende noch zu über 70 Prozent und um 1914 noch zu über 60 Prozent in Europa. Seit der politischen Allianz mit Russland (1894) floss ungefähr ein Viertel des französischen Kapitalexports in dieses Land.
 

Der deutsche Kapitalexport erreichte erst nach der Reichsgründung eine nennenswerte Höhe. Dabei blieben die deutschen Auslandsanlagen hinter den französischen zurück, weil der volkswirtschaftliche Eigenbedarf entsprechend höher war. Deutsche Anleger investierten mehr noch als die französischen in Europa, seit den 1890er Jahren jedoch auch in Afrika, China und Lateinamerika.
 

Die USA wandelten sich zur Jahrhundertwende vom Kapitalimporteur zum Kapitalexporteur. Während die Auslandsanlagen in den USA überwiegend aus Europa kamen, richtete sich der US-amerikanische Kapitalexport primär auf Kanada und Lateinamerika.
 

Literaturhinweise:

  • Pohl, Hans: Aufbruch der Weltwirtschaft. Geschichte der Weltwirtschaft von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Stuttgart 1989, S. 268f.
  • Cairncross, Alec: Home and Foreign Investment 1870-1913. Studies in Capital Accumulation, Cambridge 1953.
  • Hobson, C. K.: The Export of Capital, London 1914.
  • Stone, Irving (Hrsg.): The Global Export of Capital from Great Britain, 1865-1014. A Statistical Survey, London 1999.

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