Der Holocaust in der Ukraine

Beitrag von Vincent Hoyer

 

Dimension

Von den circa 2,7 Millionen ukrainischen Juden fielen während des Zweiten Weltkriegs in etwa 1,5 Millionen dem Holocaust zum Opfer. Unmittelbar nachdem deutsche Truppen im Sommer 1941 große Teile der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR) besetzt hatten, begannen im rückwärtigen Heeresgebiet Einsatzgruppen sowie lokale Miliz- und Polizeieinheiten mit der Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Ungefähr 900.000 Juden, die überwiegend in der Ostukraine gelebt hatten, konnten sich noch rechtzeitig dem überstürzten Rückzug der Roten Armee anschließen. Circa 100.000 Juden überlebten in der Ukraine die Besatzung in Verstecken. Ein großer Teil der ukrainischen Juden lebte zu Kriegsbeginn in der heutigen Westukraine.

 

 

Pogrome

In den ersten Tagen des Kriegs wurden insbesondere in der Westukraine an verschiedenen Orten Pogrome an der jüdischen Bevölkerung verübt. Daran beteiligten sich sowohl deutsche Soldaten als auch OUN(Organisation Ukrainischer Nationalisten)-Angehörige und Anwohner. Indem die deutschen Besatzer Juden zwangen, Leichen aus NKWD(Sowjetisches Innenministerium)-Gefängnissen zu tragen und aufzureihen, hetzten sie die ukrainische Bevölkerung bewusst gegen die jüdischen Einwohner auf. Dadurch brachten sie sowjetische Verbrechen mit den Juden in Zusammenhang, was durch das weitverbreitete Stereotyp des ‚Judeo-Kommunisten‘ bereitwillig aufgenommen wurde. Eine andere Methode waren Schauprozesse, in denen Juden, die im NKWD tätig waren, öffentlichkeitswirksam für NKWD-Verbrechen verantwortlich gemacht und verurteilt wurden. In Lemberg allein starben bei einem Pogrom in den ersten Julitagen 1941 ungefähr 4.000 Juden.

 

 

Holocaust by bullet

Ein Großteil der Holocaust-Opfer in der Ukraine wurde erschossen. Einsatzgruppen und deutsche wie ukrainische Polizeieinheiten ermordeten die lokale jüdische Bevölkerung in Massenerschießungen. Meist fanden diese etwas außerhalb von größeren Städten statt. Diese Massenerschießungen wurden kaum vertuscht, Anwohner wie auch Soldaten wohnten diesen als bystander bei. Den Inbegriff dieses Holocaust by bullet stellt der Ort Babij Jar bei Kiew dar. Dort erschoss am 29. und 30. September ein deutsches Sonderkommando circa 34.000 Juden. Insgesamt forderte der holocaust by bullet zwischen 1,5 und 2 Millionen Opfer.

 

 

Kollaboration

Schätzungen zufolge partizipierten 30.000 bis 40.000 Ukrainer am Holocaust. Aus Ukrainern zusammengestellte Polizeibataillone, OUN-Milizen sowie Anwohner beteiligten sich an Pogromen und halfen bei der Organisation und Durchführung von Massenerschießungen. Dabei spielten maßgeblich Profitgier, politisch-ideologischer Opportunismus sowie das Feindbild des ‚Judeo-Kommunismus‘ eine Rolle. Meist standen die Kollaborateure unter deutschem Befehl.

 

Im KZ Trawniki wurden angeworbene, meist ukrainische Kriegsgefangene zu KZ-Wachmannschaften ausgebildet. Diese sog. Trawniki-Männer kamen unter anderem in den Vernichtungslagern Treblinka, Belzec und Sobibor zum Einsatz. Außerdem unterstützten sie deutsche Einheiten bei Massenerschießungen und der Niederschlagung von Ghettoaufständen wie z.B. in Warschau 1943.

 

 

Rumänische Besatzung   

Das Gebiet Transnistrien im Südwesten der Ukraine wurde nach der Besatzung im Jahr 1941 teilweise von Rumänien verwaltet. Nachdem deutsche und rumänische Truppen im Oktober 1941 die zukünftige Besatzungshauptstadt Odessa erobert hatten, ermordeten Einheiten verschiedener deutscher und rumänischer Organisationen dort innerhalb weniger Tage circa 20.000-30.000 ortansässige Juden. Insgesamt forderte die erste Welle der Gewalt in Transnistrien ungefähr 60.000 jüdische Opfer. Innerhalb der ersten sechs Monate starben von 210.000 in Transnistrien lebenden Juden etwa 80 Prozent. Die Überlebenden wurden in transnistrische Ghettos deportiert, ebenso wie Juden aus der Bukowina und Bessarabien. Der Holocaust unter rumänischer Besatzung war gekennzeichnet von brutaler Härte, Willkürlichkeit und Opportunismus. Die Juden in den Ghettos wurden als Arbeitskräfte bis in den Tod ausgebeutet. Ein Politikwechsel Rumäniens gegenüber dem ‚Dritten Reich‘ 1942/1943 verhinderte die Deportation in Vernichtungslager. Im Rumänischen Holocaust verloren insgesamt circa 300.000 Juden ihr Leben.

 

 

Erinnerung

Die Erinnerung an den Holocaust war in den Nachkriegsjahren stark durch die sowjetische Politik beeinflusst. So wurden ukrainische Juden nicht spezifisch als Opfergruppe deklariert, sondern als Teil der sowjetischen Bevölkerung kategorisiert. Ein 1976 in Babij Jar errichtetes Denkmal beispielweise erinnert an die „Exekution von 100.000 Bürgern von Kiew und Kriegsgefangenen“. Der Holocaust hatte in der sowjetischen Politik des organisierten Vergessens vorerst keinen Platz. Seit dem Zerfall der Sowjetunion konkurriert die Erinnerung an den Judenmord in der Ukraine mit dem Schicksal der Ukrainer. Im Nationsmythos des heutigen ukrainischen Staats wird die eigene Opferrolle zwischen Hitler und Stalin äußerst stark betont. OUN und UPA (Ukrainische Aufständische Armee) übernehmen dabei die Rolle von Vorkämpfern der freien Ukraine. Daher wird die Kollaboration entweder auf wenige einzelne Akteure beschränkt oder teilweise komplett negiert. Mittlerweile finden sich allerdings auch Gedenksteine für jüdische Opfer. Leichte pluralistische Tendenzen bei der Aufarbeitung sind erkennbar.

 

 

Literatur

  • Gesin, Michael: The Destruction of the Ukranian Jewry During World War II, New York/Ontario/Wales 2006.
  • Golczewski, Frank: Die Kollaboration in der Ukraine, in: Christoph Diekmann et al. (Hrsg.): Kooperation und Verbrechen. Formen der „Kollaboration“ im östlichen Europa 1922-1945 (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, Bd. 19), Göttingen 2003, S. 151-182.
  • Himka, John-Paul: The Reception of the Holocaust in Postcommunist Ukraine, in: John-Paul Himka/Joanna Beata Michlic (Hrsg.): Bringing the Dark Past to Light. The Reception of the Holocaust in Postcommunist Europe, Lincoln/London 2013, S. 626-661.
  • Kappeler, Andreas: Geschichte der Ukraine, München 20144.
  • Ofer, Dalia: The Holocaust in Transnistria: A Special Case of Genocide, in: Dobroszycki, Lucjan; Gurock, Jeffrey S. (Hg.): The Holocaust in the Soviet Union: Studies and Sources on the Destruction of the Jews in the Nazi-Occupied Territories of the USSR, 1941-1945, Armonk/London 1993, S. 133-154.
  • Pohl, Dieter: Ukrainische Hilfskräfte beim Mord an den Juden, in: Gerhard Paul (Hrsg.): Die Täter der Shoa. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte Bd. 2), Göttingen 2002, S. 205-234.
  • Rossolinski-Liebe, Grzegorz: Erinnerungslücke Holocaust. Die ukrainische Diaspora und der Genozid an Juden, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 62, Nr. 3, 2014, S. 397–430.
  • Shafir, Michael: Between Denial and „Comparative Trivialization“. Holocaust Negationism in Post-Communist East Central Europe (Analysis of Current Trends in Antisemitism Bd. 19), Jerusalem 2002.

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