Die jiddische Sprachkultur in der Ukraine

Ein Bericht und Fotos von Erzehna Dorzhieva

 

Das Wort „Jiddisch“ bedeutet „jüdisch“ und bezeichnet eine Sprache, die ihren Ursprung im süddeutschen Raum (im Gebiet längs des Rheins und der Mosel) im 9. bis 12. Jahrhundert hat und von aschkenasischen Juden geschaffen, gesprochen und geschrieben wurde. Früher hieß die Sprache loschen aschkenas (Sprache der Aschkenasim) oder taitsch (Deutsch), Judendeutsch.

 

Das Jiddische ist eine Mischsprache oder Komponentensprache mit germanischen (zahlreiche Dialekte des Mittelhochdeutschen), semitischen (Hebräisch, Aramäisch) und romanischen (Altfranzösisch, Altitalienisch) Sprachelementen. Später wurde das Jiddische aufgrund der Verfolgung und Vertreibung der Juden nach Osteuropa mit slawischen Sprachelementen angereichert. Mit der Expansion der jüdischen Ansiedlung in Osteuropa bildete sich eine andere Mundart des Jiddischen, das Ostjiddische, heraus. Das Ostjiddische wies regionale Unterschiede auf und teilte sich in drei ostjiddische Dialekte: Nordostjiddisch (in Litauen, Weißrussland, Lettland, Estland, Norden und Nordosten der Ukraine), Südostjiddisch (in der Ukraine, Bessarabien und Moldawien) und Zentraljiddisch (Polen, Slowakei, Karpaten, Zentral- und Westgalizien, Nord- und Ostungarn sowie Siebenbürgen).

 

An den Grenzen der Dialekte wurde eine Mischform gesprochen, wie zum Beispiel in der Bukowina und Ostgalizien, dort benutzte man gleichzeitig Südost- und Zentraljiddisch. Czernowitz und Lemberg befinden sich gerade in diesen historischen Gebieten, wohin wir uns auch begeben werden.

 

Die aschkenasischen Juden konnten sich trotz der regionalen Unterschiede mithilfe des Ostjiddischen sowie des Westjiddischen miteinander gut verständigen. Es muss vor allem an der Grundstruktur der jiddischen Grammatik und des jiddischen Wortschatzes liegen, die sich am Deutschen orientierte. Die deutsche Komponente des Jiddischen macht 70 Prozent aus. Schwerwiegend ist heutzutage die Tatsache, dass das Jiddische vom Aussterben bedroht ist; besonders im ursprünglichen „Yiddishland“. Dies steht im Zusammenhang mit geschichtlichen, politischen und kulturellen Ereignissen. Das Jiddische verlor in Mitteleuropa früh an Bedeutung. Im Gegensatz dazu empfanden die Ostjuden dieses als Muttersprache. Um die breiten Massen zu erreichen und sie auszubilden, wurde das Ostjiddische zur Sprache in der Literatur, Politik, Presse, zum Teil auch in Religion und schließlich zur Nationalsprache der Juden auf der Czernowitzer Jiddischen Konferenz 1908 erklärt. Vor der Shoah gab es elf bis dreizehn Millionen Juden mit Jiddisch als Muttersprache. Durch die Pogrome, den Holocaust und die Unterdrückungen reduzierte sich die Zahl der Juden drastisch. Schätzungen zufolge wurden fünf Millionen Ostjuden, also Jiddisch-Sprecher, von den Nazis getötet. Darunter waren 1.200 jiddische Kulturschaffende gewesen. Viele aschkenasische Juden waren gezwungen, ihre Heimat in Osteuropa zu verlassen.

 

In der sowjetischen Periode förderte zunächst Stalin die jiddische Sprache, die jüdische Kultur und Religion. Das Jiddische wurde in Weißrussland und in der Ukraine als Staatssprache anerkannt. Viele literarische Werke wurden geschrieben, neue Zeitungen wurden verlegt, neue jiddische Schulen, Theater und Synagogen wurden eröffnet.

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen die antisemischen Strömungen zu. Stalin ließ die führenden kulturellen und religiösen Funktionäre hinrichten. Die jüdische Lebensweise und deren Identität wurden Repressalien ausgesetzt und massiv unterdrückt. Die Juden in allen kommunistischen Nationalrepubliken wurden langsam sprachlich, kulturell und sozial assimiliert. Das Ostjiddische wurde entweder als Umgangssprache in der Familie gesprochen, oder wie in Odessa stark russifiziert, oder gar ganz verdrängt und vergessen. Zu diesem Abstieg des Jiddischen trug die allgemeine Meinung über Minderheitssprachen in der sowjetischen Periode als minderwertige Sprache bei.

 

Im Jahr 1989 war die Ukraine noch für 487.300 Juden der Heimatort. Gemäß der letzten ukrainischen Volkszählung im Jahr 2001 waren es nur 103.000. 99 Prozent der ukrainischen Juden leben in den Städten, vorwiegend in der Hauptstadt Kiew oder in den östlichen Städten. In Czernowitz und Lemberg sind noch 2.000 bis 3.000 Juden ansässig. Sie verfügen über kulturelle, wohltätige und religiöse Gemeinden. Insgesamt sind etwa 600 jüdische Organisationen in der Ukraine registriert, die sich auch meist einer Assoziation anschließen. Ihre primäre Aufgabe ist es, die jüdische Kultur und die jüdische Religion wiederzubeleben. Vielen Nachfolgern der aschkenasischen Juden, die in der sowjetischen Epoche aufgewachsen sind, fällt die Selbstidentifikation und Selbstidentifizierung als Jude schwer. Dementsprechend vertreten sie die Meinung, dass die hiesigen Juden ihre loschen aschkenas genauso wie das moderne Ivrit erlernen sollten. Sie fordern mehr Unterstützung bei der Popularisierung, Erhaltung und Erforschung der Sprache. Andere hingegen öffnen sich der neuen israelischen Kultur und Religion und betrachten das Jiddische nur als kulturelle Vergangenheit ihrer Vorfahren. Allerdings sind sie sich einig, dass das Jiddische zu ihrem kulturellen Erbe gehört und den Zugang zur Mentalität ihrer ostjüdischen Vorfahren, die mit der Sprache verbunden sind, eröffnet. Um dieses Vermächtnis aufrechtzuerhalten, wurden und werden unterschiedliche Maßnahmen getroffen.

 

In Czernowitz wurden die der jiddischen Sprache gewidmeten Konferenzen in den Jahren 1993, 1998 und 2008 geführt. Es wurden zahlreiche Personen mit politischen, linguistischen und religiösen Einstellungen aus unterschiedlichen Ländern in die Czernowitzer Universität eingeladen. Das Hauptziel der Konferenz war es, den Platz und die Bedeutung des Jiddischen unter den anderen Sprachen der Welt festzustellen und auf die besondere Identifikation der Bukowina-Juden zu achten, welche tolerant, distinktiv religiös und deutschsprachig sind.

 

Die Teilnehmer besprachen die grammatischen Seiten der Sprache, die Entwicklung der Literatur, Theater, Presse auf Jiddisch, die Erstellung eines umfassenden Jiddisch-Wörterbuchs und die Anerkennung des Jiddischen als Nationalsprache des jüdischen Volkes. In den letzten Jahren erlebte Jiddisch einen immensen Aufschwung in den westeuropäischen und nordamerikanischen Ländern. Diese Vertreter teilten ihre Erfahrungen ihren orthodoxen und chassidischen Gemeinschaften mit.

Im Jahr 2010 wurde Jiddisch zusammen mit anderen Minderheitssprachen (Polnisch, Rumänisch, Bulgarisch, Deutsch, Moldauisch et cetera) als offizielle staatliche Minderheitssprache ratifiziert. Der Status erlaubt es, offizielle Veranstaltungen, wie beispielsweise Gerichtsprozesse, Konferenzen, Radio- und Telesendungen und den Schulunterricht, in eigener Sprache zu führen. An den ukrainischen Universitäten kann man Jiddistik studieren und auch Jiddisch-Kurse belegen. Die israelischen, westeuropäischen und nordamerikanischen jüdischen Organisationen helfen hauptsächlich bei dem Wiederbelebungsprozess des Jiddischen. Mit allen Mitteln versucht man, die Nostalgie und das Gefühl zu vermitteln, dass Jiddisch eine wichtige Rolle bei der Selbstidentität und der Volkseinigung spielt. So wurden zum Beispiel methodische Bücher über Jiddisch, ein jiddisch-ukrainisches Wörterbuch, Romane und Zeitungen auf Jiddisch herausgegeben. Die ukrainische Hymne wurde ebenfalls ins Jiddische übersetzt. Zahlreiche jüdische Organisationen und akademische Einrichtungen veranstalten Jiddische Wochen, Ausstellungen über jiddische Schriftsteller, wie zum 100-jährigen Jubiläum des Todesjahres des bekannten jüdischen Klassikers Scholem Alejchem.

 

 

© Universität Augsburg
© Universität Augsburg
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In den Jahren 2012 und 2014 fand das Festival Tage der jiddischen Sprache und der ostjüdischen Kultur in Lemberg statt. Zu den Organisatoren gehörten die Scholem Alejchem-Organisation der jüdischen Kultur, die Ukrainische Katholische Universität, das Zentrum der städtischen Geschichte in Zentral- und Osteuropa. In ihrem Programm wurden vielfältige Veranstaltungen eingeplant: Vorlesungen über die Geschichte und Traditionen des Ostjudentums, ostjüdische Literaturklassiker, Workshops zum Thema „das jüdische Theater“, Ausstellungen über jüdische Schauspieler, Konzerte von Klezmer-Bands sowie Filmvorführungen auf Jiddisch. Unter anderem wurde der Dokumentarfilm „A Mentsh“ von Uwe und Gabriela von Seltmann (Deutschland, 2014) vorgestellt. Der Hauptprotagonist des Filmes ist Boris Dorfman. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist er mit seinen 94 Jahren der letzte Muttersprachler des Jiddischen in Lemberg.

 

 

© Universität Augsburg

 

Dorfman war einer der ersten Aktivisten der Revitalisierung der jüdischen Kultur sowie einer der Gründer der Scholem Alejchem-Organisation (1988) und der jüdischen Zeitung Schofar (1990). In diesen Jahren veröffentlichte er zahlreiche Artikel und Berichte über die jüdische Kultur, Religion sowie ihre Geschichte. Er führte Stadtrundgänge zu besonderen und wichtigen Orten der Juden in Lemberg auf Jiddisch und brachte den Interessenten die jiddische Sprache bei. In seinem hohen Alter findet man ihn nach wie vor bei seiner gemeinnützigen Arbeit in der ehemaligen chassidischen Synagoge oder der Jakob Glanser Schul Synagoge, in der sich heute ein jüdisches Kulturzentrum befindet.

 

Seit 2016 organisieren die jüdischen Zentren, wie The Jewish Foundation of Ukraine in Kooperation mit dem International Yiddish Center Vilnus, die wissenschaftlich-kulturellen Veranstaltungen, wie beispielweise „Die Perlen der jiddischen Kultur“. Dabei werden die Vorträge über das kulturelle Erbe, die Geschichte und die Gegenwart des Jiddischen gehalten, sowie auch alte jiddische Lieder gehört und mitgesungen. Solche Veranstaltungen richten sich sowohl an Jiddisch-Interessierte als auch an Jiddisch-Spezialisten (Lehrer an den Universitäten, in den Kindergärten und Bibliothekare), die ihre Kenntnisse in Jiddistik weiterentwickeln wollen und so ihre Methodik des Jiddisch-Unterrichtes erweitern können.

 

In der heutigen Ukraine sind viele Sänger und Bands zu finden, die alte, jiddische Lieder singen und Klezmer Musik spielen. In Lemberg beispielsweise ist das Chor-Ensemble Varnitchkes-Folk bekannt und beliebt. Viele alte jiddische Songs in ihrer neuinterpretierten Aufführung, wie „Daloy Polizei“, „Ver es hot a Templ“, „Nigun Sholem“, „Dire-Gelt“ und „Tanz“, lösen Faszination und Nostalgie für die vergangenen Zeiten aus. Im Rahmen des Poesiefestivals MERIDIAN in Czernowitz tritt jedes Jahr das Orchester der jüdischen Musik von Lew Feldmann auf. Die Melodien der Klezmer Musik und das Zusammenspiel von zahlreichen Musikinstrumenten lassen die Leute tief in die alte musikalische Tradition eintauchen. Durch die Musik wird das Interesse der jüngeren Generation an der jiddischen Kultur, Musik und Sprache besonders geweckt.

 

 

© Universität Augsburg

 

Die Juden sind heute überall auf der Welt verstreut; sie haben unterschiedliche Antworten auf die Frage „Wer ist Jude?“. Gerade die Sprache trägt als vereinendes Element, nicht nur für ukrainische Juden, dazu bei. Weltweit wird, wie auf der Homepage Ethnologue Language of the World angegeben, eine genaue Zahl von 1.546.280 Jiddisch-Sprechern geschätzt. Die genaue Zahl der heutigen ukrainischen Juden im Jahr 2017 ist nicht bekannt, die der noch Jiddisch-Sprechenden umso weniger.

 

Es ist schwer zu beurteilen, ob sich die Sprache in der Ukraine mit dem Erlernen weiterentwickeln oder mit den letzten tatsächlichen Muttersprachlern verschwinden wird. Zumindest sind die jungen Juden wie Alexander Nazar, der Enkel von Boris Dorfman, positiv gestimmt. Sie halten das Jiddische nicht für eine tote Sprache. Es scheint so, als ob die Hoffnung auf die Revitalisierung des Jiddischen nicht aufgegeben wurde, denn sie erlernen ihre loschen aschkenas aufs Neue. Anzumerken ist dabei jedoch, dass sie im Jiddischen vor allem eine Möglichkeit sehen, in die Vergangenheit ihrer ostjüdischen Kultur und die Blütezeit des Jiddischen einzutauchen. Bedauerlich ist nur, dass die Sprache in die Realität des heutigen Lebens in der Ukraine nicht integriert ist. Die jiddische Sprache selbst lebt trotzdem, wie in den westamerikanischen und westeuropäischen Ländern, und wird weitergesprochen, -gesungen, -geschrieben, -gepflegt und behalten.

 

 

Literatur

  • Aptroot, Marion/Gruschka, Roland: Jiddisch. Geschichte und Kultur einer Weltsprache, München 2010.
  • Muth, Thorsten: Das Judentum. Geschichte und Kultur, Remshalden 2009.

 

 

Internetquellen

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