Sowjetisches und ukrainisches Tschernivtsi

Beitrag von Andrii Rymlianski
 

Im geheimen Zusatzprotokoll des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom 4. August 1939 erhob Stalins Regierung Anspruch auf Bessarabien. Jedoch ein Jahr später, am 28. Juni 1940, folgte nicht nur die Besetzung Bessarabiens, sondern auch die des nördlichen Teils der Bukowina durch die Sowjetunion. So kam die Nordbukowina zum ersten Mal in Berührung mit der sowjetischen Macht. In den weiteren Kriegsjahren wurde die Nordbukowina von Rumänien besetzt: Fast alle bukowinischen Juden wurden in das rumänische Besatzungsgebiet Transnistrien deportiert und dort ermordet. Im März 1944 besetzte die Rote Armee die Bukowina erneut, was zur Folge hatte, dass es zu massenhaften Auswanderungen von Rumänen zurück in die Südbukowina kam. Die endgültige Teilung der Bukowina wurde jedoch erst am 10. Februar 1947 in den Pariser Friedensverträgen festgelegt: der nördliche Teil mit Czernowitz gehörte seitdem zur Sowjetunion (zur Ukrainischen SSR) und der südliche Teil verblieb bei Rumänien.

 

Von nun an begann eine steile Etablierung der Sowjetmacht in der Nordbukowina, was ein Ende der bukowinischen Multikulturalität bedeutete. Zu den ersten Opfern des sowjetischen Regimes zählten die dem Kommunismus entgegenstehende ukrainische Inteligenzija und Mitglieder der „Ukrainischen Aufständischen Armee“. Zur effektiven Kontrolle wurde eine NKWD-Zentrale in Tschernivtsi errichtet und zur Schwächung der Unterstützung der Aufständischen deportierte man ca. 50.000 Ukrainer in andere Regionen der Sowjetunion. Mehr als 8.000 Polen wanderten nach Polen aus und die restliche polnische Bevölkerung wurde aktiv ab 1944 (z.B. Männer in die sowjetische Armee) rekrutiert. Die Juden, die Transnistriens Konzentrationslager überlebt hatten und nach Tschernivtsi zurückgekehrt waren, fanden nur zerstörte Wohnungen bzw. Werkstätten vor. Daraufhin emigrierten die meisten Juden nach Westeuropa, Palästina und Übersee auf der Suche nach einem besseren Leben. Faktisch war mit diesen Aktionen und nach u.a. der Aussiedlung der Deutschen 1940, der Deportationen und Ausrottung der Juden von 1941 bis 1944 die gesamte ehemalige Bevölkerung der Stadt Czernowitz getötet oder vertrieben worden.

 

Zum Ausgleich des arbeitsfähigen Bevölkerungsanteils hatte die sowjetische Regierung demobilisierte Soldaten und Bauern aus dem Osten der Ukraine und Russland angesiedelt. Seit den 50er Jahren ließ sich ein industrieller und infrastruktureller Aufstieg beobachten, denn es entstanden Fabriken und Betriebe v.a. zur Verarbeitung von Lebensmitteln und zum Maschinenbau („Hraviton“, „Elektromarsch“, „Kvarz“ etc). Neue Arbeitsplätze und schnell wachsende Infrastruktur lockten viele Bürger aus allen Teilen der UdSSR an. Die Bevölkerung von Tschernivtsi verdoppelte sich von 152.000 (1959) bis auf 258.375 (1989). In wirtschaftlicher Hinsicht wird die Nordbukowina aus einer provinziellen Stadt zu einem konstituierenden Teil des gesamten sowjetischen militärisch-industriellen Komplexes.

 

Parallel dazu verliefen aber Prozesse der pauschalen Sowjetisierung und Russifizierung des Bildungswesens und der politisch-kulturellen Lebenssphären der Bukowina: z.B. nur 18 von den 45 funktionierenden Schulen in Tschernivtsi unterrichteten in ukrainischer Sprache, obwohl der Anteil der Ukrainer mindestens 60% der Stadtbevölkerung (Stand 1989) ausmachte. Die Einschränkung der Meinungsfreiheit, Zensur der Presse und Krise in der Wirtschaft bzw. Lebensmittelversorgung waren ein Teil des Alltags. Dazu kamen auch ökologische Katastrophen der 80er Jahre (1983: chemischer Betriebsunfall in Strebnik, 1986: Tschornobyl‘-Katastrophe), aber auch die Unfähigkeit der kommunistischen bürokratisierten Regierung, nachfolgende Probleme (Behandlung der Massenkrankheiten und Umweltverschmutzung) zu lösen und effektiv Reformen zur Steigerung sozialer Lebensqualität durchzuführen.

Ende der achtziger Jahre entwickelte sich langsam eine breite antikommunistische Bewegung, die von zahlreichen Bürgerorganisationen unterstützt wurde. Gegründet wurden die Umweltorganisation „Grüne Bukowina“, „Ukrainische Taras Shewchenko-Gesellschaft“, „Prosvita“ und letztendlich die „Ukrainische Volksbewegung für die Perestroika“ („Ruch“). Dank solch eines Freiheitsschwungs gründeten Journalisten und Intellektuelle neue Zeitungen z.B. „Bukowynskij Visnyk“ („der Bukowinische Bote“), die eine wichtige Rolle in der Formation von einer demokratischen bürgerlichen Gesellschaft und Pressefreiheit spielte. 1989 fand auch das erste Festival des ukrainischen Liedes „Tschervona Ruta“ („Rote Raute“) statt, was zu einem nie da gewesenen Aufbruch patriotischer und nationaler Gefühle geführt hatte. Nach der Proklamation der Unabhängigkeit der Ukraine nahmen am 1. Dezember 1991 auch Tschernivtsi und Tschernivets‘ka Oblast‘ am gesamtukrainischen Referendum teil, bei dem über 90% der Wahlberechtigten dafür gestimmt hatten. Noch im September 1991 wurde das Gebietskomitee der KPDSU geschlossen.

 

Trotz der erfolgreichen Demokratisierung und Liberalisierung zeigten sich bereits die ersten Probleme. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begann der schnelle Verfall vieler Fabriken militärisch-industrieller Art, was für Tschernivtsi eine gewisse Exklusion und Provinzialisierung zur Folge hatte. Tausende qualifizierter Arbeiter verloren ihre Arbeitsstellen. Gut zehn Jahre (bis 2001) lang hatte eine starke Wirtschaftskrise angedauert. Aktive Privatisierung des einst staatlichen Guts ließ Raum für Korruption. Stattdessen entwickelten sich aber kleine und mittlere Betriebe: Möbel- und Holzverarbeitungskombinate, Leichtindustrie, Nahrungsmittelproduktion und Baumaterialien. Die größte Rolle spielen heutzutage jedoch die Handelsunternehmen bzw. Märkte, z.B. der Kaliniv-Markt, der als der größte Bazar Osteuropas gilt. Hier decken sich hauptsächlich Zwischenhändler mit Waren aus allen Ländern ein. Aufgrund der Arbeitslosigkeit musste sich der solide Teil der Bevölkerung zur Arbeitssuche in die EU-Länder begeben. Im Moment arbeiten oder studieren etwa 40.000 Czernowitzer im europäischen Ausland.

Trotz zahlreicher sozialer und wirtschaftlicher Probleme gedeiht seit 1991 ein sehr buntes und vielfältiges kulturelles Leben. Als Bewegungsmotor gilt die staatliche Czernowitzer Juri-Fedkowich-Nationaluniversität, die 1875 als Franz-Josephs-Universität gegründet wurde und den Titel der „schönsten“ Alma-Mater der Ukraine trägt. An der Universität tragen die Österreichische Bibliothek, das wissenschaftlich-kulturelle Zentrum „Gedankendach“, eine Filiale des Goethe-Instituts und der deutschsprachige Club „Einstein“ dazu bei, den Kontakt zur österreichischen Vergangenheit und der deutschsprachigen Kultur nicht zu verlieren. In Anlehnung an eine gemeinsame Geschichte ermöglichte die ukrainische Regierung anderen Völkern und Ethnien ihre Sprache, Kultur und Erinnerungsorte zu pflegen. So wurden in Tschernivtsi deutsche, polnische, jüdische, rumänische und ukrainische Volkshäuser gegründet. Dort erfolgen thematische Tagungen, Ausstellungen, Konferenzen, literarische Lesungen, Theaterstücke, Länderabende. Durch diese Kulturzentren kann man mit Bräuchen, Sprachen, Traditionen der einst hier lebenden Kulturen in Berührung kommen. Ein weiteres besonderes Erlebnis für Czernowitz ist das Lyrikfestival „Meridian-Czernowitz“, das die Stadt kulturell und finanziell bereichert. In Erinnerung an die multikulturelle Region Bukowina erklingt dort die Literatur in allen möglichen Sprachen. Damit wird nicht nur an die einst untergegangene Kulturmetropole „Czernowitz“ erinnert, sondern auch gezielt versucht, das ukrainische Tschernivtsi in das Zentrum des politischen und kulturellen Gefüges Europas zu stellen.

 

Literatur

  • Braun H. (Hg.): Czernowitz. Die Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole, Berlin 2003.
  • Burkut I., Herasʹko O., Romaniv M.: Sučasna Bukovyna, Černivci 2006.
  • Cholodnytskyi W.: Misto v radjanski chasy, in: Chernivtsi: istoriya i suchasnist', Chernivtsi: Selena Bukovyna, 2009, (S. 241-280).
  • Dobrzhanskyy O.: Czernowitz und die Ukrainer, in: Heppner, Harald (Hg.), Czernowitz. Die Geschichte einer ungewöhnlichen Stadt, Wien 2000, S. 45-61.
  • Massan O., Tschechovs’kyi I.: Tschernitsi: 1408-1998. Narysy z istoriji mista. Chernivtsi 1998.

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